Polens vorletztes Aufgebot ist bestellt

■ Die unendliche Krise zwingt die Kommunisten in die Koalition mit Solidarnosc - als Juniorpartner

Ob Walesa selbst nun Regierungschef wird oder Fraktionschef Geremek - Polens KP wird sich mit einer Minderheitenrolle im Kabinett abfinden müssen. Ein vielleicht letzter Versuch, die polnische Gesellschaft aus ihrer Lethargie zu wecken, und ein risikoreiches Unterfangen für die Solidarnosc genauso wie für die KP-Reformer - aber auch ihre einzige Chance.

Erstmals seit über vierzig Jahren wird Polen in den nächsten Wochen einen nichtkommunistischen Regierungschef bekommen. Der Versuch der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP), sich souverän über ihre katastrophale Niederlage bei den Parlamentswahlen hinwegzusetzen, ist gescheitert. Vier Jahre früher als am „runden Tisch“ vereinbart hat die Opposition jetzt - bei hohem Risiko - die Chance, eine weitere Etappe des Übergangs einzuleiten. Polen wird zum Pilotprojekt, das für den osteuropäischen Reformprozeß richtungweisend sein kann. In Ungarn ist zwar die gesellschaftliche Liberalisierung weiter, doch beim Umbau des politischen Systems, bei der Institutionalisierung parlamentarischer Demokratie, spielt Polen jetzt wieder unangefochten Avantgarde.

Das verwirrende Stück polnischer Demokratie, das vor zwei Wochen mit der Wahl eines kommunistischen Premiers begann, erreicht mit seinen theatralischen Beschwörungen, taktischen Kehrtwendungen und maximalistischen Posen fast schon italienische Qualitäten. Daß sich nun am Ende die realistischste aller gehandelten Optionen durchsetzen wird die von Solidarnosc geführte Allparteienkoalition inklusive Kommunisten - ist ein von handfesten Notwendigkeiten diktierter, raffiniert eingefädelter Kompromiß. Und eine polnische Sensation. Die zutiefst hoffnungslose Stimmungslage der Gesellschaft verlangt nach einer historischen Zäsur: Solidarnosc an die Macht - die einzige politische Institution mit gesellschaftlicher Autorität

-und Bruch mit der Vergangenheit.

Doch die 40jährige Herrschaft der PVAP kann nicht über Nacht gekippt werden, ohne den prekären Reformprozeß zusätzlich zu gefährden. Die Absicherung des neuen Kurses nach außen - gegenüber dem Warschauer Pakt - und nach innen

-gegenüber dem Machtapparat - ist nur von den Kommunisten zu leisten.

Doch Solidarnosc eröffnete nicht mit dieser realistischen, sondern mit der populären Variante des Alles-oder-nichts die Auseinandersetzung: Reine Solidarnosc-Regierung oder Verweigerung hieß es anfangs. Eine optimale Ausgangsposition.

Vielleicht haben die polnischen Kommunisten während ihrer unangefochtenen Herrschaft die taktische Finesse im Umgang mit dem politischen Gegner verlernt. Jedenfalls manövrierten sie sich mit der Wahl des ehemaligen Innenministers, der ab 1981 das Kriegsrecht exekutiert hatte, von Anfang an in die Defensive. Indem die PVAP gleich mit ihrer Wunschoption der „Regierung der nationalen Verständigung“ - in die Verhandlungen ging, hatte sie jeglichen Verhandlungsspielraum von Anfang an vertan. Eine kommunistisch dominierte Regierung mit den heiklen Ministerien Wirtschaft, Umwelt, Wohnungsbau für die Opposition war ein allzu durchsichtiges Angebot - in psychologischer Hinsicht eine Provokation, taktisch eine Katastrophe.

Der Taktiker

Daß Lech Walesa nicht zu den brillanten politischen Köpfen seiner Bewegung zählt, ist ebenso unbestritten wie seine taktische Raffinesse, die ihm seit 1980 die Solidarnosc -Führung sichert. In autokratischer Manier - ohne Absprache mit der Fraktion - lancierte er die Variante der „kleinen Koalition“ mit der Bauernpartei und den Demokraten. Die konsternierten Kommunisten konnten nur noch zusehen, wie die neue Option ihre Eigendynamik entwickelte: Die kleinen Parteien witterten die Chance, ihre langjährige Abhängigkeit von der PVAP schlagartig zu beenden. Der vollständige Machtverlust der Kommunisten stand plötzlich auf der Tagesordnung.

Als Kiszczak verlauten ließ, es wäre „keine persönliche Tragödie“, wenn er mit der Regierungsbildung scheiterte, war sein Abgang schon programmiert. Die Kommunisten opferten ihren General, um am Ende nicht auch noch die letzte Chance einer Regierungsbeteiligung zu verspielen. Die hat ihnen Walesa, quasi von Solidarnosc-Gnaden, jetzt zugestanden unprätentiös, via Interview, in einem Nebensatz; so wie es einem zusteht, der ein Angebot präsentiert, das die Gegenseite nicht ausschlagen kann.

Was Walesa da einfädelte, ist die politische Übergangskonzeption, wie sie von seinen Beratern Jaczek Kuron, Adam Michnik und Bronislaw Geremek entwickelt wurde. Schon vor der Kiszczak-Wahl hatte Kuron der Fraktion des Bürgerklubs ein Strategiepapier präsentiert, das die jetzt absehbare Lösung vorwegnimmt. Der friedliche Übergang des Systems - so Kuron - sei nur mit den Reformkommunisten zu haben. Auch die Positionen Inneres und Verteidigung waren schon für die Kommunisten reserviert.

Einiges spricht dafür, daß die „kleine Koalition“ niemals als ernsthafte Alternative gedacht war. Die Moskauer Befürchtungen einer Destabilisierung Polens durch den Abgang der Kommunisten erweisen sich im nachhinein als überflüssig.

Auch Walesas Andeutung, er werde möglicherweise selbst als Regierungschef antreten, ist eher die Krönung seines taktischen Triumphs. Er wird sich letzten Endes nicht als Regierungschef verschleißen, sondern Gewerkchaftschef bleiben. Er muß die internen Kritiker einer Koalition mit den Kommunisten überzeugen und zugleich die Führungsspitze seiner Organisation, die noch aus der Zeit vor dem Kriegsrecht stammt, demokratisch legitimieren. Vor allem aber muß er die herben Einschnitte, die die Sanierung der Wirtschaft unweigerlich mit sich bringen wird, den polnischen ArbeiterInnen vermitteln.

Walesa hat mit der Beendigung der Herbststreiks 88 den runden Tisch ermöglicht und damit seine Autorität unter Beweis gestellt; ob sie groß genug ist, eine von Solidarnosc getragene Wirtschaftsreform sozial abzusichern, bleibt offen. Ein Machtverlust jedenfalls wäre der Verzicht Walesas auf das Amt des Regierungschefs keinesfalls. Wer heute in Polen über die Autorität verfügt, Streiks auszurufen, wahrt auch ohne Regierungsamt seinen überragenden Einfluß. Über die Erfolgsaussichten der „Regierung der letzten Chance“ (Walesa) läßt sich spekulieren - zumindest lassen sich ihre Risiken benennen.

Kontinuität des Umbaus

Als böses Omen könnte sich erweisen, daß die Polen das Spektakel der Regierungsbildung fast teilnahmslos über sich ergehen ließen. Die Sorgen über galoppierende Inflation und katastrophale Versorgung dominieren die Bewußtseinslage der Nation. Es gibt eine - vom Kriegsrecht gebrochene geschichtliche Kontinuität des polnischen Umbaus. Aber die euphorische Stimmung der Jahre 80/81 hat die Talfahrt aus Repression und Krise nicht überlebt. Die Bevölkerung noch einmal zu mobilisieren sowie von harten Folgen einer Sanierung zu überzeugen - Teuerung, Arbeitslosigkeit, Lohnstopp - ist eine schier unlösbare Aufgabe.

Auch der Fortgang der gesellschaftlichen Liberalisierung ist keinesfalls gesichert. Wenn Parteichef Rakowski jetzt von „offenem Machtkampf“ und Bruch der Vereinbarungen am runden Tisch schwadroniert, läßt das nichts Gutes ahnen. Noch verfügt der Apparat über einflußreiche Machtpositionen in Polizei, Militär und Verwaltung. Deshalb hängt der Erfolg des polnischen Experiments nun davon ab, wie schnell der Reformflügel der PVAP sich mit der neuen Situation arrangiert. Jede Verunsicherung - und das macht Rakowskis jüngste Äußerungen so fatal - schwächt die ohnehin gefährdete Koalition. Den Parteireformern bleibt nach ihrem Kiszczak-Flop nur die Flucht nach vorn - in die Arme der Solidarnosc.

Matthias Geis