Gesundheitspolitik: Alles beim alten

■ Eine rot-grüne Gesundheitspolitik ist bisher nicht erkennbar / Ärger bei der AL, Gesundheitsstadträten und Selbsthilfegruppen / Viele Projekte stehen ohne finanzielle Grundlage da / Anbindung der Gesundheitsverwaltung an den Umweltsenat wird diskutiert

Voila, dies ist der erste Artikel einer Serie zum Thema „Gesundheitspolitik in West-Berlin“. Weitere Hintergrundberichte werden in loser Folge erscheinen.

In dem berühmt-berüchtigten 100-Punkte-Katalog, den der Regierende Bürgermeister Momper nach 100 Tagen SPD/AL-Senat veröffentlichen ließ, tauchte die Gesundheitspolitik nur mit einem „Erfolg“ auf: der Fortführung der Planungen und des Ausbaus des Universitätsklinikums Rudolf Virchow und der damit zusammenhängenden Schließung verschiedener kleiner Krankenhäuser. Was als Leistung des Senats vermerkt wurde, galt im Mai vielen als erstes großes Versagen der SPD: Sie schaffte es nicht, den Vorgaben des alten CDU-Senats zu entkommen und eigene gesundheitspolitische Vorstellungen umzusetzen. Der Ausbau und Umzug wird nach Schätzungen in den nächsten Jahren rund 1,8 Milliarden Mark verschlingen. Da bleibt nicht viel Spielraum für ein Umlenken in der Gesundheitspolitik, für die „gemeindenahe Prävention“, den Abbau der Umweltbelastungen und die Sicherung von Pflege und Versorgung kranker Menschen.

Der Ärger bei den Gesundheitsexperten von AL und SPD wächst. Die Selbsthilfegruppen und Projekte, die eigentlich die Stützpfeiler neuer Strategien im Gesundheitsbereich sein müßten, sind sauer: Sie verspüren nun im Haushalt 1990 als erste die Konsequenzen der Entscheidung für das Universitätsklinikum Rudolf Virchow. Zum Beispiel der Aids -Bereich: 800.000 Mark mehr soll es hier im nächsten Jahr geben. Das ist nicht einmal soviel, wie Senator Fink allein im Jahr 1988 zugelegt hatte. Doch die Krankenzahlen steigen weiter drastisch: 743 Menschen sind bislang in Berlin erkrankt, fast die Hälfte in den letzten 12 Monaten. Für Ende 1990 rechnet man mit über 2.000 Kranken. Doch verschiedene, dringend nötige Projekte sind in ihrer Finanzierung immer noch ungesichert: Für ein präventives Stop-Aids-Projekt für schwule und bisexuelle Männer, das in den Koalitionsvereinbarungen festgelegt wurde, soll mit 211.000 DM bislang nicht einmal ein Drittel der benötigten Summe zur Verfügung gestellt werden; der Drogengebraucherkontaktladen „Fixpunkt“, den die Aids-Hilfe auf der Schönebeger Drogenszene eröffnen will, bekommt bislang gar kein Geld; und der Aids-Krankenpflegeverein HIVe.V., der schon jetzt den Nachfragen für Pflegen kaum hinterherkommt, weiß nicht, wie er 1990 die verstärkten Anforderungen bewältigen soll. Frank Lehmann, Geschäftsführer der Berliner Aids-Hilfe, sieht ein Problem grundsätzlicher Art: „Selbsthilfearbeit wird immer noch als exotische Nische angesehen. Um diese neuen Ansätze zu fördern, müßte der Senat auch mal bei den etablierten Bereichen der Gesundheitsversorgung ins Fleisch schneiden. Mein Eindruck ist, daß die Senatorin Stahmer diesen Konflikt zur Zeit nicht will.“

Ein anderes Beispiel: das Projekt „Große Freiheit“ in Kreuzberg. Eine Gruppe von Ärzten und Sozialarbeitern will versuchen, für Obdachlose und Drogengebraucher, die oftmals nicht einmal krankenversichert sind, die medizinische Grundversorgung zu gewährleisten. Im Januar war die Gruppe noch beim alten Senat vorstellig geworden. 2,2 Millionen Mark soll die „Große Freiheit“ im ersten Jahr kosten, da viel medizinisches Gerät und eine Grundausstattung angeschafft werden müssen. Danach wird es billiger. Dennoch wird es 1990 keine Finanzierung geben, Begründung: Kein Geld! Eventuell soll 1991 gefördert werden, und zwischenzeitlich möge das Projekt - so die Verwaltung - doch schon mal mit der billigen Selbsthilfe anfangen.

Währenddessen bringen Senatorin Stahmer und ihre für den Gesundheitsbereich zuständige Staatssekretärin Ursula Kleinert auch die Gesundheitsstadträte gegen sich auf. Aktueller Konfliktpunkt ist der Krankenhausplan. Dessen Neufassung steht bislang in den Sternen, eine vereinbarte Beteiligung der Betroffenen, wie Patientengruppen und den Personalvertretungen des Krankenhauspersonals, ist ebenfalls nicht in Sicht. Politiker der Koalition erhalten die Planungsunterlagen zum Krankenhausbereich von Dritten statt von der Verwaltung selbst. „Da macht die alte CDU-Verwaltung weiter die alte Politik, und Kleinert und Stahmer durchblicken das gar nicht, sondern zeichnen ab“, meint die AL-Fraktionärin Gisela Wirths. Tiergartens Gesundheitsstadrätin Sabine Nitz-Spatz (AL): „Ich weiß gar nicht, ob man von Frau Kleinert anderes als eine Politik der Bettenstreichungen erwarten darf. Als ehemalige Vorsitzende der Betriebskrankenkassen steht sie für eine Politik, die seit Jahren Streichungen aus Kostengründen fordert.“ Auch in Bereichen, die kaum Gelder benötigen, wird keine neue Gesundheitspolitik spürbar. So wollten SPD und AL sogenannte regionale „Gesundheitskonferenzen“ einrichten. Vertreter aus der Verwaltung sollen dort mit Leuten aus Selbsthilfegruppen, Initiativen, Kirchen und sozialen Diensten eine bezirkliche Gesundheitsplanung durchführen. Diese regionalen Konferenzen sollten schließlich in einer Landesgesundheitskonferenz zusammengeführt werden. Nitz -Spatz: „Das wäre ein wichtiger Schritt zu einer Demokratisierung der Gesundheitspolitik.“ Allein in Tiergarten existiert wenigstens ein erster Tagungstermin im Oktober.

Bei der derzeitigen Diskussion um das Gesundheitsressort im rot-grünen Senat geht es aber auch um Führungsstile. Im Sozialstrang der Stahmer-Verwaltung gibt es kaum Probleme. Das rechnen viele dem dortigen Staatssekretär Armin Tschoepe, Exsozialdezernent aus Hamburg, zu. Der bemühe sich, die Umsetzung der Koalitionsvereinbarungen in Gang zu halten und notwendige Abstimmugnen mit anderen Senatsverwaltungen voranzubringen. „Im Gegensatz zum Gesundheitsbereich sehe ich kaum ein Feld, das brachliegt“, lobt AL-MdA Michael Haberkorn. Senatorin Stahmer und Staatssekratärin Kleinert hingegen hätten für neue Ideen meist kaum Zeit und würden während der Gespräche noch andere Akten durcharbeiten.

Der Ärger ist mittlerweile so groß, daß in der Al bereits über die Möglichkeit personeller Umbesetzungen gesprochen wird. Soll Ingrid Stahmer weg? „Diese Überlegungen sind noch sehr in den Anfängen. Ich will mich da nicht verbindlich äußern“, sagt Gisela Wirths. Sie wisse auch nicht, ob die Gesamt-AL eine solche Forderung mittragen würde. „Wenn es dazu kommt, muß Frau Kleinert aber in die Umbesetzung mit einbezogen werden.“ Eine andere Alternative wäre, den Strang der Gesundheitsverwaltung bei der Senatorin für Umwelt und Stadtentwicklung anzusiedeln. Dann wäre die rot-grüne Gesundheitspoltik mit einer solchen Angliederung auch ein gutes Stück näher an der Gesundheitsdefinition der Weltgesundheitsorganisation WHO, die seit einigen Jahren diesen Begriff nicht mehr als Abwesenheit von Krankheit, sondern als Ergebnis gesunder Umwelt- und Lebensbedingungen definiert.

Andreas Salmen