„Bleibt drüben“

Peter Lohauß vom Parteivorstand der Berliner AL zu den Vorstellungen seiner Partei, DDR-Bürger in der BRD künftig wie Ausländer aus Nicht-EG-Staaten zu behandeln  ■ D E B A T T E

In der vergangenen Woche hat sich der Parteivorstand der AL, der Geschäftsführende Ausschuß (GA), mehrheitlich für eine Neudiskussion der bisherigen Positionen der AL zum deutsch-deutschen Verhältnis ausgesprochen. Nach dem Votum des GA sollen DDR-BürgerInnen nicht mehr automatisch einen bundesrepublikanischen Paß bekommen, keine Privilegien und keinen Anspruch auf eine Einbürgerung mehr haben. Im Herbst sollen diese Vorstellungen innerhalb der Alternativen Liste und der Grünen diskutiert werden.

taz: DDR-Bürger als Ausländer - Peter Lohauß, wie kommt ihr zu dieser Position?

Peter Lohauß:Wir haben im GA über die Entwicklung des deutsch-deutschen Verhältnisses hinsichtlich der fortschreitenden Perestroika und der Krisen in den sozialistischen Ländern gesprochen. Dabei kann man sich verschiedene Szenarien denken: das eine ist, daß die Demokratisierung und Umgestaltung in der Sowjetunion und Ungarn gutgeht und auch die DDR langsam davon ergriffen wird. Die Konsequenz bei einer Demokratisierung in der DDR wäre, daß ein erheblicher Teil der Bevölkerung die Forderung nach einer Angleichung an bundesrepublikanische Verhältnisse erheben würde. Das andere Szenario wäre, daß die DDR-Führung auf einen Militärputsch in der Sowjetunion, in Polen oder Ungarn setzt, um die alten Verhältnisse zu konservieren. Das würde die Perspektivlosigkeit der Bevölkerung in der DDR erheblich verschlimmern und dann nur noch die Vorstellung zulassen, ein erträgliches Leben sei nur unter westlichen Bedingungen möglich. Angesichts dieser beiden Möglichkeiten sind wir der Meinung, daß eine Debatte geführt werden muß, die die deutsche Zweistaatlichkeit in den Mittelpunkt rückt. Eine Konsequenz dieser Debatte ist die Frage der Staatsbürgerschaft. Dabei wollen wir ganz klar so diskutieren, daß eine Umgestaltung und Verbeserung der Verhältnisse in der DDR erreicht werden muß und nicht die individuelle Wiedervereinigung in der Bundesrepublik vollzogen wird.

Nun ist eine Demokratisierung in der DDR überhaupt nicht absehbar, statt dessen gibt es schätzungsweise zwei Millionen DDR-Bürger, die sehnlichst auf ihre Ausreise warten, und einige hunderttausend, die sie längst vollzogen haben. Wenn ihr DDR-Bürger zu Ausländern erklärt, welche Konsequenzen hätte das für diese Menschen?

Diejenigen, die politischer Verfolgung ausgesetzt sind, müßten einen Asylantrag stellen. Und da gilt unsere Position, daß wir die Bundesrepublik für jedes politische Asyl offenhalten wollen, unabhängig von der Zahl. Für diejenigen, die endlich mal keinen Trabi mehr fahren wollen sondern ein schöneres Auto, hätte das zur Folge, daß sie nicht mehr übersiedeln könnten. Wir wollen die völlige Öffnung der Reisemöglichkeiten, aber nicht die allgemeine Perspektive des Wechsels der Staatsbürgerschaft und des Aufbaus neuer Lebensverhältnisse hier. Bei diesen Reisen muß aber klar sein, daß die DDR-Bürger DDR-Bürger bleiben. Das Ventil der Ausreisemöglichkeit, wie es jetzt existiert, bestärkt die DDR-Führung in ihrem Kurs und schwächt immer wieder die Opposition.

Ihr sagt den Leuten also: Bleibt drüben!?

Ja, das sagen wir - als allgemeine Perspektive. Wir wollen nicht, daß die schlimmen Verhältnisse in der DDR dadurch gelöst werden, daß die Menschen individuell in den Westen rüberkommen.

Mit welchem Recht könnt ihr das sagen?

Es ist gemeinsame Position der AL, daß wir kein wiedervereinigtes Deutschland in der Mitte Europas wollen, sondern zwei deutsche Staaten. Diese Position haben wir, obwohl wir wissen, daß viele Menschen in der DDR das anders sehen. Wir halten das aber für eine wichtige Lehre aus der Geschichte, denn wir erachten die Existenz eines „Großdeutschlands“ als bedrohlich. Wenn jetzt aber noch einige Millionen DDR-Bürger aus der internen Perspektivlosigkeit heraus überlegen, die DDR zu verlassen, gibt es meiner Meinung nach keine gemeinsame Perspektive in Europa.

Eure Botschaft heißt: Leute, haltet aus! Damit sprecht ihr all denen, die in der DDR keine Perspektive für eine politische Veränderung sehen, die Gründe ab, es in der DDR unerträglich zu finden.

Nein, die Gründe kann ich sehr gut nachvollziehen. Das Problem ist doch, daß man den Eindruck gewinnt, die Übersiedlung in die Bundesrepublik wird zu einer allgemeinen Perspektive. Und das ist ein Weg, der sowohl für die DDR als auch für die übrigen sozialistischen Länder in die Sackgasse führt. Wir müssen doch über das objektive Problem diskutieren, daß die Ausreisen sowohl die Wirkungslosigkeit der DDR-Opposition festigt als auch den jetzigen reaktionären Kurs des Honecker-Regimes stärkt.

Das hört sich an wie die alte Krisentheorie der K-Gruppen: das Ventil Ausreise zu verstopfen, damit es innendrin explodiert.

Nicht damit es explodiert, sondern damit es zu Veränderungen kommt. Es ist doch in der DDR unter anderem deshalb zu keinen Veränderungen gekommen, weil die Möglichkeit immer da war, in den Westen zu gehen.

Die deutsche Teilung ist eine Konsequenz des Zweiten Weltkriegs. Warum sollen die, die zufällig östlich der Elbe leben, mehr unter der Schuld des Faschismus leiden als die, die in Wanne-Eickel geboren wurden und dort Daimler fahren?

Ich wehre mich gegen das Argument, wenn einige hunderttausend persönlich gerettet werden, dann würde es besser werden in der DDR. Die DDR hat 17 Millionen Einwohner, und letztes Jahr sind 500.000 rübergekommen. Man muß sich doch ernsthaft dem Problem stellen, daß bei einem weiteren Exodus die innergesellschaftlichen Strukturen zusammenklappen, auch für die, die dableiben wollen.

Seit wann betrachtet es die AL als ihre Aufgabe, die DDR zu retten?

Zunächst ist es unser Anliegen, soziale, demokratische und ökologische Bewegungen überall zu unterstützen, und die DDR liegt uns da besonders am Herzen. Ich meine auch, es ist unsere Verpflichtung, die Opposition in der DDR politisch zu untersützten. Das hängt für mich moralisch notwendig mit unseren jetzigen Vorschlägen zusammen. Sonst würden wir wirklich nur die Schotten dichtmachen.

Nun haben die Grünen und die AL immer plädiert für eine Gesellschaft der offenen Grenzen. Wenn ihr DDR-Bürger zu Ausländern erklärt, macht ihr für sie die Grenzen dicht.

Ja, unsere Vorstellungen würden tatsächlich eine Grenze schließen. Aber die offenen Grenzen bedeuten ein Bleiberecht, ein Recht auf politisches Asyl und die Abschaffung der Einreisevisa - nicht jedoch eine allgemeine Einwanderung.

Also Mauerbau von links?

Wenn es um eine Verantwortung gegenüber der Gesamtbevölkerung der DDR geht, dann kann man doch nicht immer nur über die reden, die rübermachen. Dann muß man doch auch über den Rest reden, und das ist bisher noch die Mehrheit. Wir sagen: Bei der historischen Perspektive kann es nicht um eine Westorientierung gehen, sondern um eine Umgestaltung. Und das ist bei der DDR besonders wichtig, weil die DDR-Bevölkerung - wenn sie Umgestaltung will nicht wie die Polen, die Ungarn oder die Letten auf ihre eigene nationale Geschichte zurückgreifen kann, sondern zwangsläufig auf das Bild des gesamten Deutschlands zurückgreift, das natürlich westlich definiert ist. Und das ist eine Dauerblockade für eine Umgestaltung in der DDR.

Daß die AL-Vorschläge jetzt kommen, stinkt gewaltig nach der Angst vor dem „Übersiedlerstrom“.

Nicht daß die DDRler hier sind, ist unser Problem, sondern daß in der DDR verstärkt eine Situation der gesellschaftlichen Perspektivlosigkeit entstanden ist, und die hängt mit dem Ventil nach Westen ganz eng zusammen.

Eure Vorschläge haben derzeit keinerlei Chance, Realität zu werden, denn dazu wäre eine Grundgesetzänderung nötig, und die dafür nötige Zweidrittelmehrheit im Bundestag gibt es nicht.

Das stimmt. Aber ich sehe die Chance, dadurch die Perspektive der Zweistaatlichkeit verstärkt in die Diskussion zu bringen.

Das Gespräch führte Vera Gaserow