Nervenaufreibende Ferien in der Warteschleife

Am Balaton trifft Ost auf West, Blutwurst auf Coca Cola und ein Lada auf einen Trabant / Richtige Entspannung ist am Urlaubsziel vieler Deutscher von hüben und drüben kaum möglich / Dreiklassenurlaub und Fluchtgedanken inklusive  ■  Aus Siofok Heide Platen

Der Sprecher von Radio Danubius, dem deutschsprachigen Sender am Plattensee, empfiehlt im Werbeprogramm die „Disco mit den schönsten Mädchen“. Wo die Mädchen herkommen, weiß der Reiseleiter und Animator Tonio: „Aus der DDR“. Da kriegen auch die fehlerhaften männlichen Exemplare seiner Gruppe noch eine ab. Und die, meint er, sind netter zu den Mädchen, denn die „lassen sich aushalten“. Kunststück! 2.800 Forint dürfen DDR-BürgerInnen in ihrer Heimat eintauschen, wenn sie einen schönen Urlaub, zum Beispiel in Siofok am Plattensee, machen wollen. 2.800 Forint, das sind rund 80 DM, die heimliche Währung am Balaton wie auch anderswo in Ungarn.

Siofok am flachen Südufer des größten europäischen Binnensees, das ist die Riviera der DDR-Bürger. Hunderttausende drängeln sich hier am Wasser. Wer schwimmen will, muß erst einmal waten, knietief bis weit in den See hinein. Siofok ist einer der preiswertesten und überlaufendsten der zahlreichen Ferienorte rund um den See vier große Hotels, ungezählte Privatzimmer, Discos, der eine oder andere Nachtclub und eine Dreiklassengesellschaft der Touristik. Die bundesdeutschen UrlauberInnen sitzen auf Wiener Cafehausstühlen mit weichen Kissen auf Hotelterrassen, baden am Hotelstrand, kaufen elegante Stücke von den Kleiderständern der vielen Läden. Und staunen immer wieder, „wie billig das ist“, wie lange ein einzelner Hundertmarkschein reicht: „Sagenhaft!“ Dies und das würden sie noch perfekter machen.

Die Feriengäste aus der DDR hingegen hocken auf Holzbänken an der Bordsteinkante und essen fette ungarische Blutwurst mit Pommes frites in Mengen. Und staunen immer wieder über all das, was sie bei sich daheim gar nicht erst zu sehen bekommen. Und wie perfekt die Versorgung hier klappt! Das West-Ehepaar maßregelt seine Kinder: „Nein, es gibt keine Coca Cola!“ Das Ost-Ehepaar leistet sich hin und wieder den Luxus einer Coca Cola.

Als Menschen zweiter Klasse, als Urlauber zweiter Klasse hatte sich ein fluchtbereiter DDR-Bürger bezeichnet. In Siofok wird das verständlich. „Nischt, einfach nischt kannste dir leisten“, schimpft ein Ost-Berliner. Der eigene Staat mache sie zum Gespött, verraten sie, wenn er die Leute im Urlaub wie die Bettler über die Grenze schicke: „Die lachen uns doch aus!“ Und: „Wir sind für die Funktionäre der letzte Dreck!“ Selbstbewußtsein kommt allerdings nicht auf, wenn auf der Strandstraße ein Lada auch nur sanft auf einen Trabant stößt und dem daraufhin langsam die Vorderfront wegbröselt. „Ja, ja, das Material!“, spottet der Ungar und betrachtet mitleidig die Rostbeule.

Die ungarischen jungen Leute sind selbstbewußt. Sie haben es nicht nötig, auf die Marlboros der Westler zu schielen. Die verschaffen sie sich, wenn sie überhaupt wollen, schon selber. Westliches Zurschaustellen von Wohlstand, der „Drang nach bevorzugter Bedienung und Vordrängelei“ finden ihren Widerstand. Wenn schon Konsum, dann sind ihre Wünsche hoch angesetzt. Um flotte, flunderflache Sportwagen und dicke Motorräder bilden sich Menschentrauben. Der Autowahn hat sie in den Klauen. Ein DDR-Bürger streicht über die Flanke eines Flitzers. Und dann wieder diese Bemerkungen über den Trabi. Eine Erholung ist das nicht.

Am Plattensee wird leise, aber ausgiebig über die DDR geschimpft. Viele sitzen hier und warten ab, wie sich die Situation für die derzeit die Flucht Versuchenden entwickelt. Mancher war entschlossen, machte einen Versuch, kehrte resigniert zum Urlaubsort zurück und wird wieder heimreisen. Viele sind ratlos, wütend auf die Flüchtenden, weil sie fürchten, im nächsten Jahr nicht mehr nach Ungarn ausreisen zu dürfen. Sie empfinden diese Ferien in der Warteschleife als nervenaufreibend. Nie habe er so viele Familienkräche erlebt, sagt ein Betroffener. Richtige Entspannung sei einfach nicht möglich. Wer eine Westzeitung gekauft hat, die es hier reichlich gibt, muß sie immer wieder verleihen. Unter der Hand wird gemunkelt, daß Ungarn den DDR-Bürgern noch vor Ende September den Flüchtlingsstatus zuerkennen wird: „Dann, wenn sich alles beruhigt hat.“ „Bis dahin“, rät ein Einheimischer, „abtauchen!“ Wohin, kann er auch nicht sagen.

Die DDR-Bürger trösten sich beim Sonnenbaden, daß es andere gibt, denen es noch schlechter geht: „Ich kenn‘ eenen, der würd‘ gern wegmachen. Der kann aba nich‘. Seine Frau ist Russin.“

Flüchtlingslager wächst

Budapest (ap) - Das Lager der DDR-BürgerInnen rund um die Kirche im Budapester Stadtteil Buda wird täglich größer. Auch gestern meldeten sich weitere DDR-BürgerInnen bei Malteser-Helfern rund um die große Kirche. Diplomaten der Bonner Vertretung wurden den ganzen Tag über auf dem Gelände gesehen, wo sie wieder Daten von ankommenden DDR-BürgerInnen aufgenommen hatte.