Radlos - das jähe Ende einer Beziehung

■ Fahrraddiebstahl ist zu Massendelikt und knallhartem Profigeschäft geworden / Von Vera Gaserow

Ob Alu oder Rost, Zwölfgang oder Hollandklepper: Fahrräder werden immer attraktiver, vor allem wenn es nicht die eigenen sind. Etwa alle eineinhalb Minuten wechselt derzeit in der Bundesrepublik ein Fahrrad seinen legitimen Besitzer. Der Räderklau grassiert seit langem und wird in diesem Jahr seinen Höhepunkt erreichen. Die „Fahrradmarder“ rüsten mit Bolzenschneidern auf, die Radbesitzer mit schweren Stahlbügeln. Wütende Betroffenenberichte gibt es an jedem Kneipentisch zu hören, bloß die geklauten Räder tauchen nirgends mehr auf.

Die Augen ungläubig geweitet, den Blick leicht starr auf den Gitterzaun gerichtet - da stand es doch gerade noch, hier genau an dieser Stelle hatte man es doch angeschlossen! Kurzer Hoffnungsblitz - vielleicht war man doch mit der U -Bahn zur Arbeit gekommen? Nein, die Kollegin kann's bezeugen, frühmorgens hat es noch dagestanden und so wunderschön ausgesehen mit der neuen Zehngangschaltung und den superleichten Schutzblechen. Jetzt zeugen nur noch spärliche Überreste eines Metallkettengliedes von seiner Existenz. Das Ende einer Zweiradbeziehung, wie es derzeit im Minutentakt in der Bundesrepublik stattfindet.

Etwa alle 60 bis 90 Sekunden macht es irgendwo in der Bundesrepublik „knack“, und ein Fahrrad wechselt gewaltsam seinen Besitzer. Von Hamburg bis an die österreichische Grenze würde die Zweiradschlange reichen, wenn man all die gestohlenen Fahrräder eines Jahres aneinanderreihen würde. 331.259 waren es im letzten Jahr, die bei der Polizei als gestohlen gemeldet wurden. Die tatsächliche Zahl dürfte weit darüber liegen. Geschätzter Wert des alljährlich durch die Republik rollenden Diebesguts: 160 Millionen Mark.

Goldene Zeiten, als ein Fahrrad noch als „Geschenk fürs Leben“ unter dem Weihnachtsbaum stand und man es tagelang unverschlossen an der Straßenbahnhaltestelle parken konnte. Heute kann die Zweiradbeziehung auf völlig unberechenbare Weise schon nach wenigen Tagen enden, und wer sein superleichtes Alu-Rennrad nicht innerhalb weniger Tage in fremden Händen sehen will, muß es als Möbel mit in die Wohnung nehmen oder gleich mit ein paar Kilo Stahl behängen. Wehmütig blicken auch Versicherer und Kripobeamte auf die Zeiten zurück, als Fahrräder erstmals für wert befunden wurden, in der Kriminalstatistik zu erscheinen. 78.000 Zweiräder, so verzeichneten die Statistiker, kamen damals, im Jahr 1955, in der gesamten Bundesrepublik abhanden. Seitdem ist die Zahl kontinuierlich gestiegen und seit Ende der 70er Jahre steil in die Höhe geschnellt. „Zweiradkriminalität“ ist längst zum Massendelikt geworden, zur zweithäufigsten Straßenstraftat überhaupt. Den absoluten Klaurekord meldeten die Kriminalstatistiken im Jahr 1983, danach gab es einen leichten Rückgang - allerdings nur auf dem Papier. Seit die Versicherungsunternehmen 1984 bei neuen Verträgen die Fahrräder aus der Hausratsversicherung herauskatapultiert haben, lohnt sich für viele Bestohlene die Diebstahlsanzeige bei der Polizei nicht mehr, und die allein geht in die Statistik ein. Trotz geänderter Versicherungsbedingungen nähert sich die Klaukurve mit regionalen Zuwachsraten zwischen 2 und 50 Prozent rapide dem alten Spitzenwert, und für 1989 prognostizieren die Kripoexperten bei anhaltendem warmen Sommer und steigendem Trend zum edlen Stahlroß den absoluten Rekord.

Egal wie alt...

„Egal wie alt dein Rad ist, es wird geklaut. Du kannst es selbst vors Polizeirevier stellen - innerhalb von ein paar Stunden ist es weg“, schimpft der Bremer taz-Redakteur. „Sicher ist es nur, wenn du es in den Tresor packst“, klagt auch der Hamburger Kollege, und in der Berliner taz-Zentrale hat die Selbsthilfegruppe der durch Fahrradklau Geschädigten täglichen Mitgliederzuwachs.

Der Räderdiebstahl grassiert zwar in der ganzen Republik, dennoch gibt es deutliche regionale Unterschiede. Wer zum Beispiel in Wuppertal wohnt, kann sich seines Zweirads vergleichbar sicher sein. Unter hunderttausend Einwohnern waren hier im letzten Jahr nur 88, die ihr Stahlroß als gestohlen meldeten. Pech hat dagegen, wer im erzkatholischen Münster lebt. Hier war im letzten Jahr die Wahrscheinlichkeit, von seinem Zweirad nur noch Überreste einer Kette oder eines Schlosses wiederzufinden, rund 30mal so hoch (2.500 Diebstähle pro 100.000 MünsteranerInnen). Insgesamt 6.500 Fahrräder verschwanden dort. Gemessen an ihrer Einwohnerzahl ist die westfälische Unistadt konkurrenzloser Fahrradklau-Spitzenreiter der Republik. Mit einigem Abstand folgen die Hansestadt Bremen, wo auf 100.000 Einwohner 1.490 Fahrraddiebstähle kommen, und die Großstädte Hamburg, Hannover und Karlsruhe. Was die absoluten Zahlen angeht, war Hamburg mit knapp 17.000 geklauten Stahlrössern im letzten Jahr Rekordhalter. Auch Berlin, so schätzen die Kripofachleute, wird dieses Jahr die 17.000-Grenze überschreiten. Alle zwanzig Minuten macht es hier „knack“, und ein Fahrrad verschwindet - für seinen Besitzer meist auf Nimmerwiedersehen.

Wo sind sie geblieben?

Daß vor allem in den Großstädten jedes Jahr Tausende von Rädern gestohlen werden, ist offensichtlich - nur wo sie dann bleiben, ist Betroffenen und Fachleuten ein Rätsel, denn in keiner Stadt gibt es einen offen sichtbaren Gebrauchträdermarkt. Vereinzelt taucht das Diebesgut zwar auf den Flohmärkten auf, und ab und an findet sich auchmal ein Halbrenner oder Dreigangrad im Kleinanzeigenteil der Anzeigenblätter wieder - aber die polizeilichen Stichproben waren bisher wenig erfolgreich. In jeder größeren Stadt gibt es zwar inzwischen Sonderdezernate für Fahrradklau, zahlreiche Fachkonferenzen und Arbeitsgruppen haben sich mit diesem Thema beschäftigt, „aber“, so räumt der Berliner Kriminaloberrat Winfried Roll ein, „was den Verbleib der gestohlenen Fahrräder angeht, stehen wir mehr oder weniger vor einem Rätsel“.

Immer wieder gibt es zwar Spekulationen über einen gut organisierten Verschiebebahnhof zwischen einzelnen Städten, und auch über einen heimlichen Transfer nach Holland wird gemunkelt. Beweisen läßt sich das jedoch nicht. Längst arbeiten die Polizeien der Bundesländer in Sachen Fahrradklau zusammen, und alle als gestohlen gemeldete Räder wandern samt Rahmennummer in den zentralen Sachfahndungscomputer des BKA. Genützt hat das aber auch nicht viel. Die Aufklärungsquote stagniert weiterhin um die 11 Prozent. Hin und wieder tauchen zwar in Hamburg gestohlene Räder aus Berlin auf und Münsteraner Drahtesel wurden in Osnabrück weiterverhökert, doch gemessen an der Zahl der Diebstähle ist der Markt verschwindend klein. „Wir zerbrechen uns ständig den Kopf darüber, wo die Dinger wohl bleiben“, klagt Kriminalbeamter van der Meulen vom Münsteraner „Sonderdezernat Speiche“. „Eine deprimierende Angelegenheit“ sei der Job, jammert auch sein Kollege in Berlin. Viele seiner „Männer“ könnten das Wort „Fahrrad“ schon nicht mehr hören.

Knallharte Profis

Klar ist zwar, daß in vielen Großstädten ganze Banden am Werk und zumindest die ertappten Fahrraddiebe zum großen Teil Jugendliche sind. „Aber“, so Kripomann van der Meulen, „das geht quer durch den Garten, vom Rentner bis zum Professorensohn. Nur selten gelingt den professionellen Fahrradfahndern ein Coup wie neulich in Berlin, wo ein 17jähriger gestand, innerhalb weniger Wochen 57 Mountainbikes geklaut zu haben, und damit auf ein wöchentliches Taschengeld von runden 1.500 Mark gekommen war. „Fahrraddiebstahl ist ein knallhartes Profigeschäft geworden“, berichtet Kriminalhauptkommissar Bernd Witt von der Kreuzberger Polizeidirektion, in dessen Revier der Fahrradklau in diesem Jahr eine 50prozentige Steigerungsrate zu verzeichnen hat. Je teurer die Fahrräder, desto professioneller werden auch die Diebe. Nicht nur die Klaumethoden und -werkzeuge werden immer raffinierter, auch die Wiederverkaufswege. Auf dem Flohmarkt, so berichtet Witt, werden geklaute Räder nicht mehr mit einem Schild „Zu verkaufen“ angeboten, sondern einfach in den Weg gestellt. Wenn jemand fragt, ob das zu verkaufen ist, wird erst einmal genau taxiert, ob der Interessent vielleicht ein Zivi ist. Meist werden die Räder auch nicht direkt verkauft, sondern irgend jemand kennt jemanden, der vielleicht ein Rad verkauft und sogar Bestellungen entgegennimmt. Am Ende ist niemand schuld. Und wenn jemand auf frischer Tat ertappt wird, gibt er bestenfalls den einen Diebstahl zu. Die anderen zehn Räder, die die Polizei dann vielleicht in seiner Wohnung findet, lassen sich dann meist nicht mehr als geklaut identifizieren, weil die Rahmennummer ausgestanzt ist oder sie keinem bestohlenen Zweiradbesitzer zugeordnet werden kann. „Keiner der Ertappten“, stöhnt Kommissar Witt, „macht seinen Hehler kaputt, und solange wir an die nicht rankommen, geht's eben so weiter.“ Große Chancen, erfolgreich zu arbeiten, haben die „Kriminalen“ allerdings auch nicht. Aus ganzen dreieinhalb Beamten bestehen beispielsweise die fünf Berliner „Sonderkommissionen Zweiradkriminalität“, die allein im Juli 2.400 Fahraddiebstähle aufklären sollten. Dreieinhalb Leute, das reicht nicht einmal für eine Stichpunktkontrolle pro Woche an den Selbstbedienungsläden der Fahrraddiebe, den Schwimmbädern, Schulen oder Sportstadien. Und das stadtweite Berliner Anzeigenblatt 'Zweite Hand‘ zu durchforsten, das auch in Polizeikreisen als eine Angebotsmöglichkeit für das rollende Diebesgut angesehen wird, scheitert an einem einfachen Umstand: „Die 'Zweite Hand'“, so heißt es bei den Spezialermittlern, „die beziehen wir hier gar nicht.“