MANIFEST DER GEÖFFNETEN AUGEN

■ Über den neuen Sinn der brachliegenden Geisteswissenschaften

Es gibt nicht nur eine Außenweltverschmutzung, sondern auch eine Innenweltverschmutzung.

Sie wird verursacht durch Medienmüll.

Medienmüll verstopft die Sinne und hindert die Eindrücke,

bis zum Hirn vorzudringen. Denn nur im Hirn ist der Mohn rot,

duftet der Apfel, singt die Feldlerche.

Die Ohren sind verstopft mit Musik.

Die Augen sind verstopft mit Bildern,

und den Mund haben sie uns mit Konsumgütern gestopft.

In der Nähe sehen wir nichts,

weil wir ununterbrochen in die Ferne spähen.

Alles Ferne ist schön.

Alles Nahe ist häßlich.

Totalitäre Ästhetik.

Ferne Morde sind schön.

Ferne Hungersnöte sind wunderschön.

Der Walkman flirtet mit dem Fernglas,

Fernweh,

Ferngespräche,

fernmündliche Mitteilung,

fernünftig,

Nahverkehr, Nahkampf,

Unnahbare Nachbarschaft.

Wir (die Erste Welt) sehen uns mit Vorliebe

die Dritte Welt an (aus der Ferne, versteht sich),

und die Zweite Welt schaut sehnsüchtig zur

Ersten hinüber.

„Was brauchen wir Glasnost, wo wir das Westfernsehen haben“,

(überlieferter Ausspruch).

Um den Müll in der Nähe nicht sehen zu müssen,

sehen wir fern.

Die Geisteswissenschaftler sollten sich der bedrohten

sprachlichen Selbsterhaltung

der Menschheit annehmen.

Wiederkehr der totgesagten Literatur.

Literatur macht die verstopften Wahrnehmungskanäle wieder frei,

dank der befreienden Wirkung des inspirierten Wortes.

Literatur ist das gewaltloseste aller Medien (Antimedium).

Sie bombardiert nicht das Trommelfell und zwingt der Netzhaut keine Bilder auf.

Der Lesende ist frei, Ton und Bild in sich selbst zu erzeugen.

Was der Lesende sieht, sieht er mit dem inneren Auge,

was er hört, hört er mit dem inneren Ohr.

Lesen ist Reisen in der Zeit.

Das Buch ist um vieles realer als das Bild.

Der Film zum Buch findet im Hirn statt.

Die brachliegenden Geisteswissenschaften sollten zweihundert Jahre nach der Französischen Revolution eine zweite Aufklärung vorbereiten.

Nach der ersten Aufklärung, die uns die Befreiung der Intelligenz von der Religion gebracht hat, müßte mit der Emanzipation des Gefühls und der Sinne ernst gemacht werden. Eine solche zweite Aufklärung ist zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts durch die freien Künste begonnen, aber sogleich wieder gestoppt worden.

Mit dem Ersten Weltkrieg begann der Siegeszug der Medien, die bis heute das Gefühl und die Sinne in totaler Abhängigkeit halten. Die Vergewaltigung der Sinne durch die Medien erzeugt immer neue Gewalt.

Intelligenz ohne Gefühl und Sinne ist korrupt.

Sinne und Gefühl ohne Intelligenz sind dumm.

Der unteilbare Mensch läßt sich nicht beherrschen.

Elisabeth Lenk