„Ich renne, er denkt“

Arturo Barrios lief beim Internationalen Stadionfest (ISTAF) in Berlin Weltrekord über 10.000 Meter  ■  PRESS-SCHLAG

Ich renne, er denkt“, so beschreibt Arturo Barrios die fruchtbare Verbindung mit seinem polnischen Trainer Tadeusz Kepka und fügt hinzu: „Gemeinsam können wir die 27 Minuten unterbieten.“ Der 25jährige Maschinenbau-Ingenieur aus Mexiko-Stadt spricht von den 10.000 Metern, jener Strecke, auf der er beim ISTAF in Berlin den fünf Jahre alten Weltrekord des Portugiesen Mamede um mehr als fünf Sekunden von 27:13,81 auf 27:08,23 Minuten verbessert hat. In diesem Jahr will der 1,74 große und 60 Kilo schwere Barrios die magische Grenze von 27 Minuten allerdings noch ruhen lassen. „Jetzt mache ich erst mal eine Pause“, kündigte er an, wobei „Pause“ beileibe nicht heißt, daß er überhaupt keine Rennen bestreitet. Die 5.000 und die 3.000 Meter will er laufen, „und vielleicht probiere ich mal einen 3.000-Meter -Hindernislauf“.

Weltrekorde sind da allerdings nicht zu erwarten. Für die 5.000 Meter sei ein etwas anderes Training erforderlich als für die 10.000, und er habe sich in letzter Zeit ganz auf die 10.000 - oder „Ten Kej“, wie er im besten Amerikanisch sagt - konzentriert. Seit 1981 lebt Barrios nämlich in Boulder/Colorado, dort, wo auch der quicke Tour-de-France -Sieger Greg Lemond residiert und wo die Schrotkugeln gemeinhin gefährlich tief fliegen. Die Kommunikation mit Trainer Kepka, der vor 23 Jahren als Entwicklungshelfer zu den mexikanischen Langläufern beordert wurde, wird durch die Distanz nicht behindert. Per Telefon bekommt Barrios minutiöse Trainingspläne, an die er sich akribisch hält, und als Kepka eine Lanze für die Mentalität der Mexikaner bricht, die keineswegs immer nur „morgen, morgen“ sagen würden, faßt Barrios den langen, spanischen Redeschwall des Polen in seiner Übersetzung bündig mit eigenen Worten zusammen: „Alle zwei Wochen telefonieren wir immer um acht Uhr morgens. Er ist da, ich bin da, immer um acht, nicht früher, nicht später, genau um acht - um acht.“

Bei so viel Disziplin kann eigentlich nichts schiefgehen. Und es ging auch nicht. Disziplin ist laut Kepka die hervorstechendste Eigenschaft von Arturo Barrios, und äußerst diszipliniert ging er auch bei seinem Weltrekord zu Werke. Jede der 25 Runden wollte er in 65 Sekunden laufen, am Schluß hatte er es auf durchschnittlich 65,12 Sekunden pro Runde gebracht. Auf den ersten 5.000 Metern halfen ihm noch die beiden amerikanischen „Hasen“ Doug Padilla und Steve Plasencia, den Rest mußte er allein bewältigen. Wie ein Uhrwerk zog er, den Kenianer Kimeli und den Italiener Panetta weit hinter sich lassend, seine Kreise, der Stadionsprecher nahm das Wort „Weltrekordtempo“ nicht mehr aus dem Mund, und das Publikum johlte frenetisch, wo immer Barrios auftauchte.

Nach dem eher glanzlosen Auftritt des Carl Lewis (8,38 Meter im Weitsprung), dem frühen Ausscheiden von Andrea Arens und Sergej Bubka im Hoch- bzw. Stabhochsprung erwies sich Barrios als Juwel für die Veranstalter. In Berlin gibt es weder solch einen schönen Vollmond noch solch ein brodelndes Stadion wie beim Konkurrenzsportfest am Zürcher Letzigrund, da mußte wenigstens ein Weltrekord her. Der Mexikaner ließ sich nicht lumpen, und zudem hatte seine Bestleistung den Vorteil, daß sie genau 26:55,31 Minuten länger dauerte als der Hürdenweltrekord von Roger Kingdom am Mittwoch in Zürich. Fast eine halbe Stunde lang hingen die Augen der Zuschauer gebannt an der dynamisch dahineilenden Figur drunten auf der Bahn, wie bei einem rituellen Tanz klatschten und lärmten sich die Leute langsam in Trance, fieberten angstvoll mit, als sich Barrios gegen Ende einige 66er-Runden leistete, und atmeten zwei Runden vor Schluß gemeinsam mit dem Läufer auf: „Da wußte ich, daß ich es schaffe.“

Auch jetzt sei er in Mexiko noch nicht so berühmt wie Hugo Sanchez, erläuterte Barrios später, obwohl er der erste Mexikaner sei, der einen Laufweltrekord aufgestellt habe. Ansonsten hält er es mit Carl Lewis, der auf die Frage, was ihn noch reize, da er nach Ben Johnsons unrühmlichem Untertauchen jetzt der schnellste Mensch der Welt sei, antwortete: „Noch schneller laufen.“ Barrios will sich damit allerdings nicht bescheiden, sondern sich in die illustre Gesellschaft von Emil Zatopek (1954 der erste unter 29 Minuten) und Ron Clarke (1965 der erste unter 28 Minuten) begeben, jenen Leuten, die er so bewundert, weil sie ihre Zeiten auf schlechten Bahnen und ohne „Hasen“ gelaufen waren. Sein erklärtes Ziel für das nächste Jahr sind die 27 Minuten. Bleibt zu hoffen, daß in Boulder in der Zwischenzeit keiner ihn für den Hasen hält.

Matti