DDR-Dorf unter Beschuß

Unbekannte in Nordhessen feuerten 90 Schüsse auf die Bewohner eines Dorfes in der DDR / DDR protestiert gegen „schwere Provokation“ / Neonazis am Werk?  ■  Von Vera Gaserow

Berlin (taz) - Polizei und Staatsschutz im nordhessischen Eschwege hatten auch gestern keine konkrete Spur von den Unbekannten, die in der Nacht zum Freitag rund 90 Schüsse auf ein an der innerdeutschen Grenze gelegenes DDR-Dorf abgegeben haben. Nach Angaben der DDR-Behörden hatten zwei Männer vom Werra-Ufer aus Wohnhäuser und Kirche der nur 80 Meter entfernten Gemeinde Wahlshausen eineinhalb Stunden lang unter Beschuß genommen. Die höchstwahrscheinlich mit einem Kleinkalibergewehr abgefeuerten Schüsse waren ins Mauerwerk mehrerer Häuser eingeschlagen und hatten in einem hell erleuchteten Wohnzimmer ein Doppelfenster zerschlagen und Türen und Schränke durchbohrt. Nur durch Zufall wurde niemand verletzt.

Bei der Eschweger Kripo hieß es gestern, unter strafrechtlichen Gesichtspunkten müsse man wohl von einem „versuchten Mord“ sprechen. Der Bundesgrenzschutz nannte den Vorfall „bisher einmalig“, denn nie zuvor in der 40jährigen Geschichte der Grenze habe es Schüsse in Richtung Osten gegeben.

Die BRD-Grenzschützer und die Polizei im drei Kilometer entfernten Bad Sooden-Allendorf hatten die nächtlichen Schüsse offenbar nicht bemerkt. Sie erfuhren erst durch die DDR-Medien und durch eine offizielle Protestnote der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn von dieser „schweren Provokation gegen die Staatsgrenze der DDR“ ('Neues Deutschland‘). Das DDR-Fernsehen hatte in seinen Nachrichtensendungen Betroffene und Zeugen aus Wahlshausen zu Wort kommen lassen, die sichtlich erschüttert über ihre Ängste berichteten und die zahlreichen Einschußlöcher demonstrierten. In ihrer Protestnote verlangte die DDR von den deutschen Behörden die „unverzügliche unterbindung derartiger verbrecherischer Anschläge“ und die Verurteilung der Schuldigen.

Wer diese Schuldigen sind und aus welchen Motiven sie Richtung Osten ballerten, ist bisher jedoch unklar. Fest steht nur, daß der oder die Täter gezielt auf die Gebäude schossen und dabei weder von DDR-Grenzpolizisten noch von bundesdeutschen Grenzschützern gestört wurden. Am Tatort fand die Polizei rund 90 Kleinkaliberpatronenhülsen. Aus 80 Metern Entfernung ist diese Munition mit großer Sicherheit tödlich. Staatsschutz und Kripo ermitteln nun „in alle Richtungen“. Dabei wird auch der Verdacht geprüft, der Anschlag könne von den in diesem Raum sehr aktiven Neonazi -Gruppen verübt worden sein. Im April dieses Jahres hatte die Polizei in Hannoversch Münden nach mehreren Hausdurchsuchungen 15 Mitglieder einer Wehrsportgruppe „Mündener Stahlhelm“ vorübergehend festgenommen. Hann.Münden liegt knapp 40 Kilometer vom jetzigen Tatort entfernt. Erst vor wenigen Wochen hatte, eine halbe Autostunde entfernt, eine Gruppe von Rechtsradikalen auf mehrere Polizisten geschossen.