Vorlauf: Tod in Deutschland

■ Ein Mann in den besten Jahren

(Ein Mann in den besten Jahren, West 3, 23 Uhr) Ein Ausstand vom Leben - mit Sekt und Karnevalsstimmung. Walter verabschiedet sich im Betrieb von seinen Kollegen, weil er weiß, wie weit fortgeschritten seine Krankheit ist. Auf einer Bergtour in den Alpen war der Sportler und Hobbykraxler Anfang Mai 1986 dem radioaktiven Niederschlag von Tschernobyl ausgesetzt. Ein halbes Jahr später tritt bei ihm eine besondere Form von Leukämie auf, die typisch für Strahlenerkrankungen nach einer Niedrigdosis ist - ein Zusammenhang mit Tschernobyl ist wahrscheinlich. Walter weiß es und läßt die Sektkorken knallen.

Wer ist dieser Mann, der lieber eine Runde gibt und dem Tod ins Gesicht lacht als verbittert zu sterben? Wir kennen ihn nicht, auch nach diesem Film nicht. Wir wissen nicht, wie er war, gütig oder garstig, galant oder gemein; wir wissen nur, wie er gewirkt hat, als er absehen konnte, daß es zu Ende geht. Da war er stark, spendete Freunden und Patienten in der Krebsklinik noch Kraft, obwohl er immer schwächer wurde. Er sprach lieber vom Wetter und sah sich die Urlaubsdias seiner Bekannten an, während von Krankenzimmer zu Krankenzimmer, von Bett zu Bett die Hitparade der Blutwerte gehandelt wurde.

Die Liebe und der Tod sind die Grundthemen des Kinos, im Dokumentarfilm lassen sie sich dagegen nur schwer darstellen. Allzu rasch wird der Kameramann zum Voyeur, der in intime Bereiche eindringt, die nur zu menschlich sind und schon allein deshalb tabu sein müssen. Der Blick ins offene Grab, die Kamerafahrt auf das sterile Plastikzelt, in dem sich Walter der Knochenmarktransplantation unterzieht, oder gar die letzten Stunden am Sterbebett; alles das ist verboten für die Kamera. Winfried Schwamborn gelingt es dennoch, seinen Gegenstand, den Tod, faßbar zu machen. Er nähert sich ihm nicht frontal, sondern umkreist ihn, weicht aus und kommt auf anscheinend Nebensächliches zu sprechen. Da ist Heiko, ein Junge, der nach einer Beinamputation in Walters Zimmer aus der Narkose aufwacht und von ihm erfährt, was Weiterleben heißt. Da sind die Freunde, die sich in die Enge getrieben fühlen, weil Walter so offensiv mit seiner Krankheit umgeht, und da ist eine alte Frau, mit der er über dies und das und den Tod klönt.

Indem Schwamborn vom Leben in der Nähe des Todes erzählt, gewinnt er dem Lebensende Momente der Hoffnung ab. Im Vorleben, im Vorsterben wächst Walter über sich hinaus, wird zu einem Menschen, der begriffen hat, sich dem Unvermeidbaren zu fügen, ohne sich selbst aufzugeben. Daß dabei Widersprüche aufbrechen, daß sich Walter gegen den Tod mit Händen und Füßen wehrt und jede künstliche Verlängerung seines Lebens versucht, läßt Schwamborns Porträt noch glaubwürdiger erscheinen. Der gesunde Walter mag so gewesen sein, wie es in den Aussagen der Freunde ab und zu aufblitzt: ein selbstbewußter - vermutlich auf Dauer kaum zu ertragender - Kraftprotz und Lauttöner. Als Kranker ist Walter ein anderer Mensch. Seine Philosophie des Sterbens ist so plastisch, daß man seine Anwesenheit zu spüren glaubt, obwohl in dem Film nur Fotos und Super-8-Sequenzen von ihm auftauchen. Walter D. starb am 11.März 1989. 50jährig.

Christof Boy