Hasardeure der Piste

Altmeister Daniel Morelon bedauert den Verlust der Schlitzohrigkeit bei den Radsprintern  ■  PRESS-SCHLAG

Die Sprinter sind wahrlich die rasantesten Typen der Bahnradfahrer. 1.000 Meter ist ihre eigentliche Distanz. 800 Meter lang belauern sie sich, fahren kreuz und quer, rollen in den steilen Kurven beängstigend hoch an die Bande. Jeder Sprinter möchte sich mit diesen Manövern und häufig auch mit raffinierten Tricks oder Täuschungen in die für ihn taktisch beste Position bringen, um dann auf den entscheidenden letzten 200 Metern mit einem feurigen Tretwirbel alles zu geben.

„Sprint ist Kraft, Geschwindigkeit und vor allem Taktik“, reduziert Daniel Morelon diese Disziplin auf ihre wesentlichen Faktoren. Morelon ist einer, der es wissen muß. Der 45jährige, inzwischen graumelierte Franzose aus Bourg en Bresse, 70 Kilometer nordöstlich von Lyon, dominierte in den sechziger und siebziger Jahren den Radsprint weltweit nach Belieben. Der „Sprinter des Jahrhunderts“ gewann sieben WM -Titel sowie 1968 und 1972 olympisches Gold, 1968 gleichzeitig auch im Tandem.

Daniel Morelon, seit 1978 Cheftrainer der französischen Bahnfahrer, war bei der Konkurrenz als großer Taktiker gefürchtet. „Ich wollte meine Gegner immer vor mir haben, das war meine ganz einfache Taktik“, erinnert sich Morelon. Er schaffte es durch seine berüchtigten Stehversuche, die er immer erfolgreich abschloß. „Mein längster Stehversuch dauerte 31 Minuten. Den Lauf habe ich gewonnen“, erzählt er mit verschmitztem Lächeln von einem Sprintduell gegen einen Landsmann 1975 in Paris.

Stehversuche sind keine Kraftakte. Das Vorderrad wird quergestellt, dann gilt es, das Hinterrad mit den Füßen auszubalancieren. Lange Stehversuche scheinen jedoch etwas aus der Mode gekommen zu sein. In Lyon sah man nur die sowjetische Sprinterin Tcareva acht Minuten stehen, um die US-Amerikanerin Eickhoff vorzulassen. Mit Erfolg: Tcareva gewann den Lauf.

Der Sprint, zusammen mit den Steherrennen die älteste WM -Disziplin, ist das Wagnis schlechthin. Die meisten Stürze auf der Bahn erleiden „die Flieger“. Denn wenn sie vor der letzten Kurve wahrlich Flügel bekommen, sich halsbrecherisch Rad an Rad nach unten stürzen und der eine regelwidrig in die „Sprinterlinie“ des anderen hineinfährt, kommt es zu übel aussehenden Stürzen. Daß diese auch auf einer Betonpiste wie in Lyon glimpflich ausgehen, grenzt an ein Wunder. Immerhin erreichen die Sprinter am Schluß enorme Geschwindigkeiten. Weltmeister Bill Huck aus der DDR schaffte die letzten 200 Meter in 10,251 Sekunden, was exakt 68,435 Stundenkilometern entspricht. Geschundene Waden und Knie sind die unverzichtbaren Kennzeichen der Sprinterzunft.

Daniel Morelon merkt man an, daß er den schlitzohrigen und verschlagenen Zeiten der Sprinter nachtrauert. „Die Kraft, die Athletik spielt heute die wichtigste Rolle.“ Bei 1,81 Meter Größe wog Morelon zu seiner besten Zeit 78 Kilo. Die DDR-Stars Huck (85 Kilo) und vor allem Exweltmeister Michael Hübner (100 Kilo bei ähnlicher Größe) sind alle mit konkurrenzlosen Muskelpaketen ausgestattet. Diese Kraft in Trittschnelligkeit (140 Umdrehungen pro Minute ist das Spitzenmaß) umzusetzen, ist das Geheimnis ihres Erfolges.

Sprinter sind extrovertierte Typen. Temperamentvoll, aber auch sensibel. Häufig setzen sie ein Pokerface auf, um den Gegner zu irritieren, aber auch, um ihre große psychische Anspannung dahinter zu verbergen. So fuhr Bill Huck nach seinem unerwarteten Triumph mit einem unüberhörbaren Siegesgeheul über den Zielstrich, um dann kurz danach in den Armen seines Trainers ausgiebig zu schluchzen.

Karl-Wilhelm Götte