Doppeltes Leder mit Schaumstoffeinlage

Zum Abschluß der Bahnwettbewerbe bei den Rad-Weltmeisterschaften gewinnt Profi-Steher Torsten Rellensmann die erste Medaille für die BRD: Bronze in einer Sportart ohne Perspektive / Doping und Siegabsprachen brachten Steher ins Zwielicht  ■  Aus Lyon Karl-Wilhelm Götte

Steherrennen und Bahnradsport waren einmal ein Synonym. In den dreißiger Jahren und nach 1945, als Straßenrennen noch nicht wieder veranstaltet werden konnten, waren sie Kassenschlager. Derzeit wandelt der Stehersport am existentiellen Abgrund. In Lyon sind nur noch 14 Amateure und zwölf Profis am Start. Lediglich acht Länder beteiligen sich.

Die Krise der Steher ist vielschichtig. Ohrenbetäubende, donnernde Motoren - heute zumeist 650er Maschinen von Yamaha -, die einst tausende Zuschauer in die Stadien lockten, sind heute nichts Sensationelles mehr. Doch letztlich haben sich die Steher selbst zugrunde gerichtet. Schlechte Fahrer, schlechte Leistungen, Doping und Siegabsprachen bestimmten in den vergangenen Jahren das Bild.

Dieter Durst, der erfolgreichste und zugleich umstrittenste bundesdeutsche Schrittmacher, der im Hauptberuf ein Fahrradgeschäft betreibt, fährt seit 23 Jahren über die mehr oder wenigen welligen Bahnen. Verdienst: 100 Mark pro Rennen bei den Amateuren, 300 bis 500 bei den Profis. „Das Stehen geht aufs Kreuz“, sagt Dieter Durst. Die Windschattenmänner sind ausgefuchste Typen. Bis genormte Lederanzüge eingeführt wurden, hatten sie zuweilen die Schultern kräftig ausgepolstert. „Jetzt schauen die Funktionäre genau hin, ob ich nur in Unterhose und -hemd dasitze, wenn ich mein braunes Leder kriege.“ Gut gepolstert dagegen müssen die Fahrer sein. Doppelte Ledereinlage mit Schaumstoff dazwischen war auf der harten Zementbahn in Lyon angesagt. 50 Kilometer bei den Amateuren oder gar eine Profistunde würden sonst leicht zu einer schmerzhaft-wunden Angelegenheit.

Durst, der 43jährige, gewichtige Nürnberger, der als Jugendlicher ein leidlicher Straßenfahrer auf bayerischer Ebene war, hat bereits als 20jähriger den Platzwechsel vorgenommen. Eine richtige Entscheidung, denn mehrfach wurde er Weltmeister - die Schrittmacher tragen den Titel wie die Radler. 1978 sorgte er bei der WM in München in jeder Hinsicht für ein Meisterstück. Ohne Führerschein, den er wegen Trunkenheit hatte abgeben müssen, führte er sowohl den Profi Winfried Peffgen als auch den Amateur Rainer Podlesch zum Weltmeistertitel.

Dieter Dursts Stärke ist nicht nur sein optimales Gefühl für den ständig richtigen Windschattenwinkel als Steher, er besitzt auch die Gabe, sich glänzend mit seinen Fahrern abzustimmen. „Ich weiß genau, was er kann, entsprechend habe ich den Finger am Gas.“ Klappt dieses Timing nicht, das mit den Zurufen „Allez“ für schneller und „Oooh“ für langsamer stattfindet, stößt der Fahrer an die bewegliche Rolle oder fällt aus dem Windschatten, was genausoviel Zeit kostet.

In Lyon klappte diesmal nichts. Dieter Dursts Fahrer Joachim Schlapphoff ging frühzeitig die Puste aus; er schied im Vorlauf aus. Durst mußte zudem noch 500 Francs Strafe zahlen, weil er mehrfach von der Steherlinie nach oben gezogen war, damit andere Fahrer nicht überholen konnten. Besser kam Profi Torsten Rellensmann zurecht. Er belegte den dritten Platz und holte die einzige Medaille für die insgesamt höchst enttäuschenden bundesdeutschen Bahnradfahrer.

Der Österreicher Roland Könighofer verschaffte jetzt in Lyon seinem Land die erste Goldmedaille im Radsport überhaupt. Österreichischer Meister ist Könighofer hingegen nicht: Mangels eines dritten Teilnehmers neben den Gebrüdern Könighofer hat die Alpenrepublik noch nie Landesmeisterschaften ausgetragen.

Der Stehersport scheint weltweit ohne Perspektive zu sein. Eine Disziplin, die zusammen mit dem Sprint bereits seit 1893 WM-Wettbewerb ist, hat sich überlebt. Gallionsfiguren wie der legendäre Guillermo Timoner, der von 1955 bis 1965 sechs Profititel gewann, sind nicht in Sicht. Alle Großen bleiben auf der Straße, wo das Geld zu machen ist. Einige kleine Rennen in der Bundesrepublik, in Nürnberg oder Bielefeld, darben mit 2.000 Zuschauern.

Erreichen die Steher ihr 100jähriges WM-Jubiläum 1993? Die Aussichten stünden schlecht, wäre nicht gerade dieser Geburtstag in Sicht.