Apartheid der AL

Freya Klier, 1988 in den Westen abgeschoben, zum AL-Vorschlag, DDR-Bürger im Westen wie Nicht-EG-Ausländer zu behandeln  ■ D E B A T T E

Nun will die AL also die Grenze zur DDR dicht machen. Deren Bürger, soeben noch „Deutsche im Sinne des Grundgesetzes“, sehen sich über Nacht in Ausländer verwandelt. Doch Trost nicht alle Sachsen oder Berliner oder müssen draußen bleiben, den politisch Verfolgten winkt die Alternative Liste mit einem Asylantrag.

Voller Schrecken denke ich da an R., einen DDR -Jugendlichen. Was wird aus ihm werden? Ich weiß, er will in den Westen, ist aber nun nicht gerade politisch verfolgt, sondern hat einfach nur die Schnauze voll... Wird die AL ihn reinlassen?

R. wollte nach dem Abitur Sport studieren. Und er hat durchaus das Zeug dazu, ist ein guter Zehnkämpfer und obendrein intelligent. Doch aus dem Studium wurde nichts, weil R. sich auf einer Schulrede vormauliert und einen humanen Sozialismus gefordert hat. (Außerdem ist er in der Jungen Gemeinde, ein Minuspunkt an sich).

Zugegeben, R. fiel deswegen nicht gleich durchs Netz - noch jedem DDR-Jugendlichen steht ein Arbeitsplatz zu und so hat die Partei ihm eine Lehrstelle als Industriekaufmann verpaßt. Doch das ist ein Job weit unter R's Intelligenz. „Ja“, höre ich die AL ihn schon abwimmeln, „das geht ja Hunderttausenden von DDR-Jugenlichen auch nicht anders“. Das stimmt zwar, doch hat R. (der trotz allem ein überzeugter Sozialist ist) eben keine Lust, den Rest seines Lebens vor einem Aktenberg zu sitzen, eine Familie zu gründen und aufs Ende zu warten. R. wirft also das Handtuch, will studieren und da bleibt ihm nur der Westen.

Und nun zeigt sich, daß R. nicht nur Pech, sondern auch großes Glück hat. Denn als er sich auf den Rücksitz von Bruders alter AWO schwingt - durch die Gnade der frühen Geburt - entgeht er nicht nur knapp dem Mauerbau, er entgeht vor allem der AL, den späteren Herrschern über Bleiben oder Gehen eines jeden DDR-Bürgers. Ja, da hat Rudi Dutschke wirklich Glück. Denn bei den Alternativen hätte er keine Chance mehr gehabt, er ist kein politisch Verfolgter. AL -konsequent gedacht, stünde Rudi heute draußen vor der Tür, mit abgelehntem Asyl-Antrag.

Unter der Hektik der durch ungarisches Schilf robbenden Zonis steuert das deutsch-deutsche Kuriosum seinem Höhepunkt zu. Und wie bei jeder gesellschaftlichen Zuspitzung platzt auch der Rassismus wieder aus den Nähten.

Der „Deutsches-Blut-durch-deutsche-Wangen„-Marsch der Republikaner legt da wirklich nur die oberste Schicht frei. Auch das verzerrte Antlitz des DDR-Bürgers gehört dazu, wenn die „Polacken“ ihm BH's und Schuhcreme wegkaufen. Das die Form verlierende des Stuttgarter Biederpaares, wenn ein Asylantenheim seine feine Straße zu beschmutzen droht. Und was ist es anderes als Rassismus, wenn Herr Müller aus Torgau oder Schwerin in der DDR ausharren muß, weil er nicht des Klassenkampfes wegen durch ungarisches Schilf robbt? Fährt nicht jede zweite Familie Müller zwischen Bayern und Schleswig-Holstein ein passables Fahrgestell - und keineswegs nur die tumbe Wohlstandsmasse, sondern auch die linken Westmüllers? Auch mein türkischer Nachbar wienert seinen Mercedes. Selbst die stets so heftig wegen ihrer „Tapferkeit des Bleibens“ gerühmte Kulturcreme der DDR verzichtet auf jenen Standard nicht (oder meint die AL, die Hermlins, Heyms oder Wolfs fahren Pappschachtel oder gar Fahrrad?) Wieso fällt also gerade Herr Müller aus Torgau in Ungnade? Und warum (worunter ich durchaus mehr leide) werden die jungen DDR-Rudis von heute plötzlich gedemütigt, weil auch sie studieren und die Welt sehen wollen?

Was berechtigt die AL, sich zum Richter über „Michel gut“ und „Michel böse“ aufzuschwingen? Welches sind die tatsächlichen Motive ihres „Mauer hoch„-Prinzips?

Die Sorge um die DDR-Bürger doch nicht, das erscheint wenig glaubhaft. Denn bisher hat die AL (und keineswegs nur sie) vor allem die SED unterstützt. Und nicht zu knapp. Die Verzückung, wenn die Ostberliner Führung so freundlich mit ihr sprach, das Lob für deren Dialogbereitschaft... Wußten die Alternativen da nicht, daß die SED noch jeden umschmeichelt, wenn es ihrem Machterhalt dient: von FJS bis zur AL, von den Mormonen bis zu den Autonomen - und alles, was sich dazwischen anbietet? Wenn sie sich lobt, eine Partnerschaft FU - Humboldt-Universität einzufädeln - weiß sie da nicht, daß sie der SED damit einen Herzenswunsch erfüllt: endlich ihre Stätten des landesweiten Berufsverbotes auch außerhalb der Mauer anerkannt zu wissen?

Soweit ich mich zurückerinnere, stand die AL de facto mehr auf Seite der Gauweilerführung im Kominterngewand als auf der Seite derer, die weder in den westlichen Edelladen ausweichen noch das letzte Aufgebot der Komintern sein wollten.

Die Gründe dafür sollten endlich aufgearbeitet werden. Denn die Beschäftigung mit DDR, mit Osteuropa überhaupt, war jahrzehntelang doch nur bei wenigen Westlinken eine tatsächliche Auseinandersetzung mit Osteuropa; bei den meisten kam sie über eine allergische Reaktion auf die eigenen CDU-Väter nie hinaus. Die Verteidigung des Sozialismus - gegen den bundesdeutschen Wohlfahrtsstaat und seine noch immer schwelende braune Gesinnung - hat sie eines übersehen lassen: daß es in Osteuropa keinen Sozialismus gab.

So malte man sich einen - aus Protest gegen die eigenen Väter - und haute jedem auf die Mütze, der aus diesen Ländern kam und die Illusion zu zerstören trachtete. Mit Ausnahme weniger Lichtgestalten hat die bundesdeutsche Linke die tschechischen Reformer ebenso hängen lassen wie Solidarnosc oder die Friedensbewegung der DDR. Sie paßten einfach nicht in ihr eigenes Rechts-Links-Schema. Und weder die stalinistische Wirklichkeit noch die maoistische tauchte je im K-Gruppen-Spiel auf.

Man sage mir, das sei Schnee vom vergangenen Jahr und ich sage: Nein, das ist alles noch da. Und bildet den Hintergrund, vor dem die restliche Welt in ein Rechts/Links -Muster eingepaßt wird. Den Hintergrund der Keulenschläge auf Sachsen und Siebenbürger Sachsen, des Umgangs mit allen osteuropäischen Exilanten - der Selbstverständlichkeit, mit der jetzt über eine ganze Bevölkerung befunden wird, daß sie am besten dort bleibt, wo sie ist (und wo die AL niemals hingehen würde).

Eine Reform in der DDR ist die einzige Chance, den Kollaps Ost (durch Ausbluten) und den Kollaps West (durch Massenandrang) zu vermeiden, ohne daß Großdeutschland wieder aufersteht. Soll es jedoch tatsächlich eine Reform sein und nicht ein bloßes Schaufensterfüllen von westlicher Gnade, so ist sie aus der „Kraft von unten“ in der DDR nicht mehr zu leisten. Zu perfekt ist das Gebilde unterschiedlich privilegierter Kasten, zu perfekt vor allem der Gewaltapparat, den die SED sich geschaffen hat. Er umfaßt weitaus mehr Bereiche, als nach außen sichtbar.

Der riesige Apparat „Volksbildung“ ist ein solcher. Hier hat sich die Führung bereits eine neue Gerneration von Stalinisten herangezüchtet - die funktioniert auch dann noch prima, wenn sich der Sargdeckel über den Alten geschlossen hat. Es ist eine Generation, die sich von den herz- und gallenkranken Altstalinisten nur in einem unterscheidet durch ihre Unverbrauchtheit und einen ungebremsten Ehrgeiz. Akkurat hat die SED die Ränder des Nadelöhrs zum Studium die Oberschulen - mit einer Auslese besetzt, die Schülern vor allem einen Kommentar entlockt: BDM.

Nach ihren Abrüstungsinitiativen hat die SED die Militarisierung nach innen enorm verschärft. Die Kampfgruppen sind längst auf die eigene Bevölkerung ausgerichtet, Wehrkampfsport und Wehrerziehung erleben eine neue Blüte.

Wen wundert's, daß Jugendliche dem entfliehen wollen? Wie wäre es, wenn die AL allen DDR-Rudis von heute, die ihr Land nicht verlassen wollen, jedoch aufgrund ihres „Aufrecht Gehens“ von höherer Bildung ausgeschlossen bleiben, den Zugang zur bundesdeutschen Universität erkämpfte? Das wäre dann das erste deutsch-deutsche Signal, das sich nicht auf einer Lüge aufbaut (und für ihre Zukunft hätte die DDR ein paar geistige Impulse dringend nötig).

Wie wäre es, wenn die AL dafür kämpfte, daß die Bücher aller aus dem Land geekelten Schriftsteller in der DDR erscheinen und ihre Autoren höchstselbst - zu einer freien Diskussion über deutsch-deutsche Geschichte? Wie wäre es, wenn sich die AL unbeugsam für die Aufhebung aller Einreise und Transitverbote einsetzte? Wenn sie DDR-Schriftsteller und -Künstler mit Dauervisum aufforderte, sich endlich dort ins Zeug zu legen, wo sie dringend gebraucht werden?

Die DDR sollte dann anerkannt werden, wenn in der Volkskammer gewählte Vertreter des Volkes sitzen. Und was die AL jetzt anzettelt, ist kein Schritt zur europäischen Entspannung, sondern übelste Apartheid, bei der sie selbst den Part der Buren übernimmt.