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Die Parteireformer suchen nach einer neuen „Generallinie“

Jaroslav Sabata ist ehemaliger Sprecher der Charta77 und Mitbegründer der Oppositionsgruppe „Bewegung für bürgerliche Freiheiten“  ■  I N T E R V I E W

taz: Nach einem langen politischen Winterschlaf, in den die Tschechoslowakei während des „Normalisierungsprozesses“ gefallen war, der der Niederschlagung des Prager Frühlings folgte, scheint die Gesellschaft langsam wieder aufzuwachen.

Jaroslav Sabata: Ja, das stimmt. Die Gesellschaft ist zwar nicht von einer enthusiastischen Aufbruchstimmung erfaßt, aber es gibt einige Anzeichen für eine veränderte Haltung. Vor allen Dingen nach den Ereignissen im Januar im Zusammenhang mit der Gedenkveranstaltung für Jan Pallach. Obwohl auch da noch die Angst überwog, konnte man fühlen, daß es nicht mehr die alte Lethargie ist. Gerade in den letzten Wochen spürte man, wie die Propaganda des Regimes zum 21.August diese Stimmung eher noch intensiviert hat. Wir befinden uns in einer seltsamen Lage momentan, weil wir nicht sagen können, wie die nächsten Wochen und Monate sich entwickeln werden.

In den letzten Tagen haben das polnische Parlament und auch die Ungarn den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts verurteilt. Wirkt das nicht auch mobilisierend?

Auf jeden Fall. Das war ein sehr starker Impuls und ein wesentlicher Faktor, der es nicht mehr zuläßt, die Verhältnisse im herkömmlichen Rahmen zu beurteilen. Das ändert aber nichts an der Unüberschaubarkeit der derzeitigen Lage bei uns. Vaclav Havel hat sich gerade mit einem Aufruf an die Bevölkerung gewandt, am 21.August nicht auf die Straße zu gehen, weil Provokationen seitens der Sicherheitskräfte zu erwarten seien. Er hält ein massives Auftreten der Opposition im Moment nicht für ratsam. Das ist seine Ansicht. Viele junge Leute verstehen das nicht und sind enttäuscht. Ich selbst bin auch nicht seiner Meinung.

War Havels Aufruf nicht eher eine Sicherheitsmaßnahme im Vorfeld, um dem Staatsapparat erst mal keinen Anlaß zum Eingreifen zu liefern?

Psychologisch ist das natürlich ganz klar. Heute haben meine Freunde von der „Bewegung für bürgerliche Freiheiten“ und der „Demokratischen Initiative“ eine Erklärung abgegeben, in der sie noch einmal zu einem Schweigemarsch für die Opfer vor 21 Jahren aufrufen. Die BBC spricht von einer Spaltung der Opposition. So sehe ich das nicht - es ist nur eine kleine Auseinandersetzung, die in ein paar Tagen vergessen sein wird.

Hat die Bereitschaft, sich wieder politisch zu engagieren, auch mit der spürbaren Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage zu tun?

Das könnte auch ein Grund sein, obwohl die Lage hier bei weitem nicht so katastrophal ist wie in den Nachbarländern weiter ostwärts. Die Mängel sind nicht zu übersehen, und die Unzufriedenheit wird immer größer. Neulich war ich auf einer Sitzung der KPC in Brünn. Dort sprachen die Wirtschaftsfunktionäre ganz offen über die Misere. Geleugnet wird sie nicht mehr, und die Kommunisten wissen auch, daß keine Perspektive in Sicht ist, die einen Umschwung mit sich bringen könnte. Die Richtlinien des nächsten Jahres sind die alten, und die Reformen, von denen Parteiführung und Regierung etwas erwarten, werden nur halbherzig umgesetzt.

Vor einigen Tagen hat der ZK-Abteilungsleiter Rudolf Hegenbart der sowjetischen Regierungszeitung 'Iswestija‘ ein Interview gegeben, in dem er in bisher ungewohnter Offenheit auch die Notwendigkeit politischer Reformen angesprochen hat, wenn die CSSR nicht in eine tiefe Krise geraten wolle. Wie bewerten Sie diese exponierte Stellungnahme?

Das hatte ich so erst mal nicht erwartet. Im Oktober letzten Jahres, kurz vor dem Sturz Strougals als Ministerpräsident, hat Hegenbart schon einmal einen Artikel in der Parteizeitung 'Rude Pravo‘ geschrieben, in dem er von einer krisenhaften Situation sprach. Der alten Garde warf er vor, sie spreche jetzt von Perestroika, obwohl sie für diesen Zustand verantwortlich zeichne. Er ist ein interessanter Mann und gilt mittlerweile als ein aussichtsreicherer Kandidat als der Prager Parteichef Stepan. Auch der Generalstaatsanwalt der CSSR, Piescak, gab kürzlich ein bemerkenswertes Interview. Er sagte kein Wort wie es sonst bei uns üblich ist - über die „antisozialistischen Kräfte“, kritisierte dafür aber unser ungenügendes Rechtsbewußtsein. Das muß man als eine Distanzierung von der Antioppositionskampagne in den zurückliegenden Wochen begreifen. Daraufhin erschienen auch in 'Rude Pravo‘ zunächst keine Angriffe mehr, jedenfalls bis zum vergangenen Donnerstag. Und auch dann war der Ton nicht mehr so scharf wie früher, ja, eher mild.

Heißt das, es gibt noch oder es formiert sich mittlerweile wieder ein reformkommunistischer Flügel innerhalb der Partei?

Es scheint sich da eine Entwicklung abzuzeichnen, ähnlich wie in der polnischen Partei um den Gewerkschaftschef Miodowicz. Er kritisiert die Verhältnisse aus einer antibürokratischen Position. Mit großem Nachdruck hat neulich ein führender Funktionär von einer „Vorkrisenzeit“ bei uns geredet. Das ist symptomatisch, denn weder Husak noch Jakes haben jemals von einer der Sowjetunion vergleichbaren Krisensituation in der CSSR gesprochen. Die jüngere Generation verwirft diese alte Position und geht anders an die Lageanalyse heran. Daraus resultiert zwangsläufig die Notwendigkeit, auch den Kurs zu wechseln. Es ist der Versuch im Gange, eine - in der Parteisprache neue „Generallinie“ zu entwerfen.

Haben diese Kräfte denn überhaupt eine Chance, sich innerparteilich durchzusetzen?

Es gibt eine ganze Reihe Reformkommunisten, da habe ich keine Zweifel. Über die exakten Kräfteverhältnisse weiß ich aber nicht genauer Bescheid. Mir sind natürlich einige interessante Beispiele bekannt, über die möchte ich mich hier aber natürlich nicht äußern.

Verbindet die jüngere Generation noch etwas mit den Vorstellungen des Prager Frühlings, oder hat sich der Sozialismus in der CSSR völlig diskreditiert?

Wissen Sie, hier muß man zwischen dem realen politischen Gefühl und der Symbolik unterscheiden. Das Wort Sozialismus hat sich auch bei uns verbraucht. Selbstverständlich sehnt man sich nach Freiheit und Marktwirtschaft. Die Stimmung ist ziemlich nach rechts gerutscht, was jedoch nicht bedeutet, in diesem Land gäbe es keine Basis für eine sozialistische Orientierung. So skeptisch bin ich da nicht. Bilanz kann man aber in dieser offenen Situation nicht ziehen. Ich selbst bin links angesiedelt. Es ist ein sozialpsychologisches Problem, daß die Jugend viel radikaler ist. Heute war ich auf der Polizei, und ich sagte, die Jugend ginge viel energischer vor. Der Polizist meinte: „Ja, aber die wissen doch gar nicht, worum es 68 gegangen ist.“ Und ich sagte, sie brauchen es auch nicht persönlich erfahren zu haben, um den Sinn der damaligen Ereignisse zu spüren. Sie - hielt ich dem Polizisten entgegen - können doch nicht abstreiten, daß der Großteil der Jugend sich diesem System verweigert, und er leugnete das nicht einmal.

Welche Kräfte sammeln sich in der von Ihnen mitgegründeten „Bewegung für Bürgerliche Freiheiten“ , worin unterscheidet sie sich von der reformsozialistischen „Obroda“, die sich um den ehemaligen Außenminister Jiri Hajek formiert?

Nun ja, ich gehöre zu dem linken Flügel dieser Bewegung. Aber zwischen dem linken und dem rechten Flügel gibt es andere Differenzen als in einer parlamentarischen Demokratie. Wir alle treten für einen universellen Pluralismus auf politischer, geistiger und ökonomischer Ebene auf. Alle Formen des Eigentums müssen respektiert werden, in welchem Verhältnis allerdings, das ist noch offen. Darüber haben die Linken andere Vorstellungen als die Rechten, die vornehmlich an einer Privatisierung orientiert sind, wir dagegen nicht.

Jetzt zu Hajeks „Obroda“: Sie spricht sehr viel von Sozialismus, läßt aber offen, was sie darunter versteht. Positiv ist, daß sie sich für eine politische Demokratie im westlichen Sinne einsetzt, aber das ist auch umstritten.

In der letzten Zeit hat sich die Opposition ja ziemlich ausdifferenziert, ist zu einem vielgestaltigen Spektrum geworden. Läßt sich das vielleicht auch schon damit erklären, daß die Intensität von äußerer Bedrohung und Drangsalierung nachgelassen hat und eine geschlossene Formierung nicht mehr unbedingt überlebensnotwendig ist.

Ja, auf jeden Fall. Die Lage ist nicht mehr so von oben blockiert. Jetzt können interne Differenzen auftreten. Man darf andererseits nicht übersehen, daß Integrationsprozesse in Bewegung sind. Die Bürgerbewegung steckt noch im Keim, aber Versuche sind sichtbar, ein einheitliches Programm zu formulieren, zum Beispiel in dem Manifest Einige Sätze.

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