DDR-Flucht wird zur Reisewelle

■ DDR-Aussteiger: Grenzübertritt war noch nie so einfach / Botschaft rechnet mit steigenden Zahlen

Berlin (taz) - Die Flucht von DDR-Bürgern hält unvermindert an. Nach der spektakulären Massenflucht am Samstag in Sopron sind in der Nacht auf Montag wieder mehrere hundert Personen über die ungarisch-österreichische Grenze geflüchtet. Allein in dem kleinen Grenzort Mörbich erreichten 160 DDR -Aussteiger österreichisches Gebiet. Die Mitarbeiter der Bonner Botschaft in Wien rechneten für den gestrigen Tag mit der Ankunft von weiteren vier- bis sechshundert DDR -Aussteigern.

Die Botschaftsangehöhrigen gehen davon aus, daß die Zahl der Flüchtenden in den nächsten Tagen eher zunehmen als fallen wird. So hätten gestern in Wien Ex-DDRler berichtet, daß es zunehmend leichter werde, die Grenze zu passieren. Ungarische Grenzposten würden in Einzelfällen nicht nur beide Augen zudrücken, sie sollen DDR-Bürger sogar zur Grenze geführt haben.

Geflüchtete DDR-Bürger berichteten gestern, daß sich auf der ungarischen Grenzseite erneut über tausend Menschen versammelt hätten, die auf eine günstige Gelegenheit zur Flucht warteten.

Die Wiener Zeitung 'Kurier‘ meldete unter Berufung auf einen abgesprungenen DDR-Geheimdienstmann, daß die Behörden in Fortsetzung auf Seite 2

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Ost-Berlin in den letzten zwei Wochen 9.000 bereits ausgestellte Visa zurückgezogen hätten. Einzelne DDR-Bürger auf dem Weg nach Ungarn sollen schon an der Grenze zur Tschechoslowakei angehalten und zurückgeschickt worden sein. Dem 'Kurier‘ zufolge sollen sich in Budapest auch etwa 250 Beamte des DDR-Staatssicherheitsdienstes unter die Flüchtlinge gemischt haben.

Das Wiener Botschaftspersonal hat inzwischen einen Notdienst eingerichtet, der die Flüchtenden rund um die Uhr mit den notwendigen Papieren, Fahrkarten und Bargeld für die Weiterreise ins Bundesgebiet ausstattet.

Meldungen, nach denen ungarische Grenzer erstmals auch solche bun

desdeutsche Pässe abgestempelt hätten, die von der BRD -Botschaft in Budapest ausgestellt wurden, wollte die Bonner Vertretung in Wien weder bestätigen noch dementieren. Entsprechend einem Abkommen zwischen der DDR und Ungarn von 1968 hatten die ungarischen Behörden bisher diese Ausweispapiere nicht anerkannt.

Beobachter in Wien vermuten, daß die Volksrepublik Ungarn in den nächsten Wochen sämtliche strafrechtlichen Regelungen zum illegalen Grenzübertritt streichen will. Zitiert wird Ungarns Staatsminister Imre Pozsgay, wonach „Grenzen nicht dazu da sind, um die Bürger der Staaten in ein ideologisches Reservat zu sperren“. Die DDR-Medien gingen gestern mit keinem Wort auf die Massenflucht ein. Im Außenministerium der DDR hieß es: „Eine offizielle Stellungnahme gibt es

nicht.“

Bonn lehnte inzwischen jede Verantwortung für die Massenflucht in Sopron ab. „Ich halte es nicht für möglich“, so antwortete ein Sprecher des Auswärtigen Amtes auf die Frage, ob Informationen zuträfen, wonach die BRD-Botschaft in Budapest den Flüchtlingen empfohlen habe, das „paneuropäische Frühstück“ zur Flucht zu nutzen. Offizielle Kontakte zwischen der Botschaft und Mitgliedern der Paneuropaunion habe es nicht gegeben. Der Sprecher fügte hinzu: „Ich weiß natürlich nicht, welche privaten Gespräche darüber geführt worden sind.“ Erwartet hat die Bundesregierung den Massenansturm allerdings schon. In Budapest habe das Gerücht kursiert, man solle doch anläßlich des Festes am Wochenende einen Fluchtversuch wagen. Auch Otto von Habsburg, Präsident der

Paneuropaunion und CSU-Abgeordneter im Europaparlament, behauptete im saarländischen Rundfunk, dieser Verlauf des Festes sei nicht geplant gewesen. Er habe nichts davon gewußt, sei aber „sehr froh, daß es so gegangen ist“.

Bundeskanzler Kohl will angesichts der „dramatischen Entwicklungen“ der Fluchtbewegung „weiterreichende Maßnahmen und Initiativen“ ergreifen. Nach Auskunft von Regierungssprecher Klein wird Kohl darüber heute in Bonn berichten. Noch in dieser Woche sollen im Kanzleramt die Botschaftsvertreter der drei Westmächte über die Reise von Kanzleramtsminister Seiters nach Ost-Berlin am vergangenen Freitag informiert werden. Am Dienstag nächster Woche wird sich dann in Bonn die Koalitionsrunde mit dem Thema beschäftigen.

ff/wg