Coccinellidae - ein Wirtschaftsfaktor

■ Die schwierige Annäherung an einen guten Freund - ein Marienkäferporträt

Ganze Straßen von Karteikästen durchziehen den Hauptsaal der Staatsbibliothek Berlin, immerhin eine der größten Buchausleihen der Republik. Ausgefallene Stichworte wie „Kriminalgeographie“ finden sich hier oder auch „Realisationsprinzip“ - wenn es halt nur schön wissenschaftlich klingt. Wehe dem aber, der hier nach dem gemeinen Marienkäfer sucht: Fehlanzeige. Das wäre noch zu verkraften, wenn nicht in der Handbibliothek des Lesesaals ausgerechnet eine elfbändige Grundsatzenzyklopädie zum mitteleuropäischen Käferwesen mit einem eigenen Indexband stünde. Aber auch hier: Marienkäfer? - gibt's nicht. Da kommen beim Chronisten schon mal Zweifel auf: Sollte der schwarzrote Sechsbeiner wegen seiner beispiellosen Flugeigenschaften (bis zu 91 Flügelschläge pro Minute, wie bei den späteren Recherchen herauskam) am Ende gar nicht zu den Käfern gehören?

Wie gut, daß da der Kollege vom Sportressort für seine eigenen Recherchen ebenfalls dem possierlichen Tierchen auf der Spur war. Er war - ressortbedingt - schon einen Schritt voran und hatte herausbekommen, daß man auch „Coccinellidae“ zu den Marienkäfern sagen kann. Das scheint seine bekanntere Identität zu sein, denn unter diesem Stichwort öffneten sich sofort ganze Bände über unseren kleinen Freund.

So wird er in besagter Enzyklopädie auf mehreren Dutzend Seiten abgehandelt, sogar mit dem Klammerhinweis auf seinen bürgerlichen Namen. Hier steht auch drin, daß sich der Coccinellidae „großer Beliebtheit“ erfreue, „und dies mit vollem Recht, sind doch die meisten Arten durch Vertilgen großer Mengen von Pflanzenläusen sehr nützlich“. Aber ist dies der wahre Grund? Weiß denn der zweijährige Sprößling, der niemals einen schwarzen Hirschkäfer liebevoll auf der Hand spazieren lassen würde, dies sehr wohl aber dem Coccinellidae gestattet, von dessen ökologischer Nützlichkeit?

Der Grund liegt doch viel eher darin, daß das Äußere des Marienkäfers am allermeisten dem des freundlichen Käfers von nebenan entspricht. Das schöne Orange mit den Tupfen macht es aus, grad so wie beim Fliegenpilz, nicht von ungefähr in der illustrierten Kinderliteratur die Nummer eins unter den Pilzen - auch wenn er alles andere als nützlich für unsere Kleinen ist.

Die Familie der Coccinellidae ist über den ganzen Globus verbreitet. Und auch wenn sie uns dieser Tage wahrhaftig auf Schritt und Tritt begegnen, sollten wir nicht vergessen, daß die Hauptvorkommen in den Subtropen und den Tropen liegen. Nach den kälteren Gebieten zu nimmt die Artenzahl eher ab.

Die in der DDR recht ausgeprägte Marienkäferforschung hat festgestellt, daß die Verbreitung der einzelnen Arten von Jahr zu Jahr sehr unterschiedlich ist. Man geht von umfangreichen Wanderungsbewegungen aus und hat sogar ein „wahrscheinlich durch Eisenbahnlinien begünstigtes Vordringen innerhalb der DDR“ herausgefunden. Sollten die Marienkäfer tatsächlich weitere Strecken mit der Bahn zurücklegen, so wäre dies nach dem Stand der Wissenschaft auch die einzige Möglichkeit für sie, entfernte Orte gezielt anzusteuern. Denn ganz wie bei einem modernen Jet findet nur der Nahverkehr („von einem Feldteil zum anderen bei der Nahrungssuche“) auf niedrigeren Höhen statt. Auf den höheren Luftstraßen erfolgen dann die „wellenförmigen Langstreckenflüge“. Jedoch: „Diese Flüge sind normalerweise passiv und stehen nur teilweise unter der Kontrolle des Käfers. Besonders stark werden sie durch den Wind beeinflußt.“ Kein Wunder, daß sie sich dabei auch schon mal heillos verirren können. Der Marienkäferführer aus der „Kleinen Brehm-Bibliothek“ schreibt denn auch von „riesigen Mengen angespülter Marienkäfer“ an den Meeresküsten. Dies seien dann „Reste von Massenflügen, vielleicht aber auch zufällig verdriftet“.

Der Mangel an Zielstrebigkeit bei den Coccinellidaeschen Langstreckenflügen ist indes nicht nur eine Frage der Kraft

-auch 91 oder bei starken Exemplaren 92 Flügelschläge pro Sekunde helfen spätestens ab Windstärke vier nichts mehr. Es mangelt zusätzlich an jeglichen navigatorischen Fähigkeiten. Wie soll sich ein normaler Marienkäfer aus größeren Höhen orientieren, da er schon seine Beute nur dann erkennen kann, wenn sie in einer Entfernung von zwei oder maximal drei Zentimetern das Blatt kreuzt? Es handelt sich also nicht nur um einen „Passivflug“, sondern um einen klassischen Blindflug reinster Natur - ohne Instrumente.

Aber auch bei näherer Inaugenscheinnahme ihrer Speisen scheinen die Coccinellidae oft nicht genau hinzusehen. Die Brehm-Heftchen wissen auch zu berichten, daß die Marienkäfer bisweilen Unverdauliches zu sich nehmen. So greifen sie unvorsichtigerweise zu der auf Holunder lebenden Blattlaus Aphis sambuci, obwohl da „die Mortalität 100 Prozent beträgt“. Auch der Verzehr anderer „toxischer Blattläuse“ sei bekannt.

Der Marienkäfer ist nicht zuletzt ein Wirtschaftsfaktor. Als bewährter Vertilger von Schild- und Blattläusen sowie Milben wurde er bereits im vergangenen Jahrhundert kreuz und quer über den Globus verfrachtet, zu speziellen Eingreiftruppen in der Schädlingsbekämpfung zusammengestellt. Kaum angekommen, konnten sie jeweils große Erfolge erzielen, ob es auf Hawaii, in Kalifornien oder Neuseeland war. Die Marienkäfer stellten etwas dar in der Branche spätestens seit ihrem legendären Feldzug gegen die Kokospalmenschildlaus auf den Fidschiinseln im Jahre 1905.

Aber auch für den netten Marienkäfer gilt die Devise: Fressen und gefressen werden - zwar wie für so vieles auf der Welt, für ihn jedoch im ganz besonders wörtlichen Sinne. Der Coccinellidae ist nämlich stark anfällig für kannibalistische Umtriebe. Da fressen sich die Larven gegenseitig auf, aber auch ausgewachsene Käfer langen schon mal zu, wenn sie ein leckeres Ei der eigenen Gattung entdecken. Dabei dienen die Käfer ihrerseits als Babykost, der Feldsperling setzt sie als Jungvogelnahrung ein, und auch Spitzmaus, Eidechse und Frosch schätzen ihren Geschmack. Verwunderlich ist dabei, daß niemand von ihnen auf den Trichter kommt, die Massenunterkünfte von Marienkäfern, die diese zum Winterschlaf beziehen, zu plündern. Lediglich vom Grizzlybären in Kalifornien sind dergleichen Millionenraubunternehmen bekannt. Auch für diese stattliche Spezies gibt so manches Winterlager der Kleinstkäfer einen satten Hauptgang ab - die Masse macht's: Wissenschaftler haben „Aggregationen“ von bis zu 42 Millionen Käfern gezählt. Wie? - Erst die Beine zählen und dann durch sechs teilen.

Ulli Kulke