Die Protestnote wird zurückgewiesen

■ Die sowjetische Annexion Lettlands, Litauens und Estlands war nur mit der Zustimmung des Deutschen Reiches möglich / Ojars J. Rozitis stellt im folgenden drei Dokumente vor, an denen sich die Verstrickung des Deutschen Reiches in die Unterwerfung der baltischen Staaten ablesen läßt

Am 17.Juni 1940 legt Dr.Schnurre von der wirtschaftspolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes eine Aufzeichung vor, in der es unter anderem heißt: „Die wirtschaftliche Bedeutung der drei Baltenstaaten für unsere Versorgung mit Nahrungsmitteln und kriegswichtigen Rohstoffen ist durch die während des letzten Jahres abgeschlossenen Wirtschaftsverträge mit diesen drei Staaten sehr erheblich geworden. Wir haben außerdem im Laufe des letzten halben Jahres mit allen drei Staaten Geheimverträge abgeschlossen, durch die die gesamte Ausfuhr dieser Länder abzüglich des geringen Teils, der nach Rußland geht, und abzüglich eines weiteren geringen Teils, der nach neutralen Ländern geht, nach Deutschland gelenkt wird. Das bedeutet bei allen drei Staaten etwa 70 Prozent ihrer gesamten Ausfuhr.“

Man stelle sich das einmal vor: Noch nach Unterzeichnung des geheimen Zusatzprotokolls vom 23.August 1939, mit dem Hitler die baltischen Staaten an die UdSSR verhökerte, schließt Deutschland mit eben denselben Ländern Wirtschaftsverträge, die diese in die nationalsozialistischen Kriegsanstrengungen einbinden...

Ein zweites Dokument: Am 22.April 1940 spricht der litauische Gesandte in Berlin, Skirpa, im Auswärtigen Amt vor, um dort eine Protestnote gegen die am Vortag erfolgte Proklamation der Sowjetmacht in seiner Heimat einzureichen. Entsprechende Schriftsätze sollen aber auch in allen anderen Hauptstädten übergeben werden, in denen Litauen vertreten ist.

Skirpa wird - schon dies ist bezeichnend genug - vom Unterstaatssekretär Woermann empfangen, der in der Hierarchie des Ministeriums erst an dritter Stelle steht. Dieser bedeutet dem Gesandten, er wolle „das Papier einmal vorläufig persönlich an sich nehmen“, könne aber nicht sagen, „ob wir als deutsche Regierung überhaupt bereit sind, ein solches Papier entgegenzunehmen“.

Der litauische Diplomat führt daraufhin aus, daß er „mit Rücksicht auf die bekannte Stellung Deutschlands“ (Hitler -Stalin-Pakt!) in seinem Schreiben „einen Punkt ausgelassen habe, den die anderen litauischen Gesandten bei den Regierungen, bei denen sie akkreditiert sind, mit in der Note vorbringen werden, nämlich die Bitte, die Eingliederung nicht anerkennen zu wollen“. Als Skirpa anfragt, „ob er diese Bitte nicht wenigstens mündlich vorbringen dürfe“, lehnt Woermann selbst dies ab. Der litauische und der am selben Tag eingereichte lettische Schriftsatz werden am 24.Juli 1940 an den jeweiligen Gesandten zurückgegeben: Ihr Protest ist damit nicht existent, es vollzieht sich auf diplomatischer Ebene jener Vorgang, der in den Zusatzvereinbarungen zu den deutsch-sowjetischen Verträgen vom 23.August und 28.September 1939 vorgezeichnet worden war, nämlich die Überstellung der souveränen baltischen Staaten in die machtpolitische Zuständigkeit der UdSSR.

Es sei „bemerkenswert“, hatte Staatssekretär von Weizsäcker in einer Notiz vom 5.Oktober 1939 festgehalten, „daß Herr Skirpa die in unserem geheimen Protokoll mit den Russen vereinbarte Linie genau kannte und auf der uns beiden zufällig vorliegenden Karte Polens bezeichnete“. Wenn also dem litauischen Gesandten die Grenze zwischen den beiden Interessensphären und damit die Implikationen der Zusatzvereinbarungen bekannt waren - was kann ihn wohl bewogen haben, Rücksicht auf die vermeintlichen Empfindlichkeiten eben jenes Deutschlands zu nehmen, das seine Heimat völlig ungerührt an die UdSSR veräußert hatte? Und was mag Skirpa empfunden haben, als er von Woermann erfahren mußte, daß selbst sein Verzicht auf Protest vergebens gewesen war und daß er seine Note hätte genausogut in einem der Papierkörbe des Auswärtigen Amtes deponieren können? Offensichtlich wollte das nationalsozialistische Deutschland von den Opfern seiner Machtpolitik nichts mehr wissen.

Doch ein drittes Dokument macht die Beliebigkeit deutlich, mit der die Annexion der baltischen Länder durch die Sowjetunion in das Machtkalkül des nationalsozialistischen Deutschlands eingepaßt werden konnte. Am 27.März 1941 empfängt Außenminister Ribbentrop seinen japanischen Amtskollegen Matsuoka.

Im Verlauf des Gesprächs deutet er die Möglichkeit eines Konflikts zwischen Deutschland und der UdSSR an. Als Beispiel für die sowjetische Gefahr führt der deutsche Außenminister dann ausgerechnet „die Baltenstaaten an, in denen heute, ein Jahr nach der Besetzung durch die Russen, die gesamte Intelligenz ausgerottet ist und in denen geradezu furchtbare Zustände herrschen“.

Das Baltikum ist nunmehr als Opfer gefragt und hat als Zeugnis dafür herzuhalten, daß der Sowjetunion nicht über den Weg zu trauen ist - und dabei war es jene im geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt vom 23.August 1939 fixierte „vertrauensvolle Zusammenarbeit“, die erst die jetzt beklagten „furchtbaren Zustände“ herbeigeführt hatte...

Aber so widersinnig und beliebig die nationalsozialistische Argumentation auf dem ersten Blick auch erscheinen mag letzten Endes folgt sie doch der Logik und den Erfordernissen des Machtkalküls.

Und dies eisern und bis zum bitteren Ende. Am 24.April 1941 meldet der Marineattache an der Deutschen Botschaft in Moskau: „1. Hier umlaufende Gerüchte wollen von angeblicher Kriegsgefahr Deutschland-Sowjetunion wissen, wozu Mitteilungen Durchreisender aus Deutschland beitragen; 2. Nach Angabe italienischen Botschaftsrats sagt englischer Botschafter 22.Juni als Tag Kriegsbeginns voraus.“

Ähnliches weiß Botschafter Schulenburg auch am 2.Mai 1941 nach Berlin zu berichten. Der drohende Konflikt liegt förmlich in der Luft. Und noch am 13.Juni 1941, mithin eine Woche vor dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion, erklärt die sowjetische Nachrichtenagentur 'Tass‘, daß alle Gerüchte über „einen nahe bevorstehenden Krieg zwischen der UdSSR und Deutschland“ jeglicher Grundlage entbehrten, vielmehr hielten beide Staaten „unentwegt die Bedingungen des sowjetisch-deutschen Nichtangriffspaktes“ ein.

Noch ein letztes Mal also erweist sich der Vertag vom 23.August 1939 seiner offiziellen Bezeichnung zum Trotz als Camouflage für einen anstehenden Angriff. Daß das Opfer die UdSSR sein würde, die sich seinerzeit als Preis für ihre Partnerschaft mit Hitler die baltischen Länder, Finnland und Teile Rumäniens hatte zusprechen lassen - dies stellt allerdings weniger eine historische Ironie dar als vielmehr eine in der besonderen machtpolitischen Natur dieses Pakts begründete Konsequenz.