„Özal hat uns lächerlich gemacht“

Nach der Entscheidung, Visazwang für die aus Bulgarien fliehenden Türken einzuführen, sieht sich der Ministerpräsident der Türkei der geballten Wut seiner Landsleute ausgesetzt / Kritik aus der eigenen Partei: „Ein Fiasko“ / Dramatische Szenen am Grenzbahnhof  ■  Aus Istanbul Ömer Erzeren

Hermetisch hatte die Polizei den Grenzbahnhof Kapikule abgeriegelt, als um vier Uhr morgens - zwei Stunden nach der Verkündung des Visazwanges durch die Türkei - der Europazug einfuhr. 522 Bulgarien-Türken durften die Abteile nicht verlassen. Gegen sechs Uhr setzte sich der Zug in Bewegung Richtung Sofia. „Die Leute schrien und versuchten, aus dem Fenster zu springen. Mehrfach wurde die Notbremse gezogen. Schließlich legten sich Menschen auf die Schienen, um den Zug zu blockieren. Es kam zu Verletzten“, berichtet ein Journalist, der von ferne die Verzweiflungstaten im Bahnhof beobachten konnte. Schließlich wird eingelenkt. Die 522 Personen dürfen in die Türkei einreisen - eine Ausnahmegenehmigung wird erteilt.

Der türkische Ministerpräsident Turgut Özal jettet am gleichen Tag mit dem Privatflugzeug nach Bodrum in die Ferienidylle am Ägäischen Meer. Von Journalisten umringt schleckt er mit Ehefrau Semra Eis im Jachthafen. „Özal floh nach Bodrum, um die Verzweiflungsschreie in Kapikule nicht zu hören“, titelt die 'Sabah‘, eine der auflagenstärksten türkischen Zeitungen in ihrer gestrigen Ausgabe.

Über zerrüttete Familien, über das Elend an der türkisch -bulgarischen Grenze berichten türkische Tageszeitungen in langen Reportagen. „Mein Vater und meine Mutter sind in Bulgarien“, sagt Ahmet Yüce. „Die Häuser, das Brennholz sind verkauft. Alles haben sie abgestoßen, um hierher zu kommen. Was soll jetzt aus ihnen werden?“ Die Entscheidung des türkischen Kabinetts, Visazwang für die Aussiedler aus Bulgarien einzuführen, hat Medien wie Oppositionsparteien gegen die Regierung Turgut Özal aufgebracht.

Alle großspurigen Reden Özals zur türkischen Minderheit in Bulgarien werden hervorgekramt. Immer wieder hatte Özal erklärt, daß die Türkei bereit sei, Millionen Türken aus Bulgarien aufzunehmen. Abrupt und unvermittelt kam die Wende. „Mit diesem Tempo wären innerhalb von vier Monaten eineinhalb Millionen Menschen in die Türkei gekommen. Selbst starke Länder können so etwas nicht verkraften“, ließ Özal nunmehr verlauten. Durch Schließung der Grenzen will jetzt die Özal-Regierung Bulgarien dazu bewegen, ein Abkommen über die Aussiedler zu schließen. 730.000 Pässe sind seitens des bulgarischen Staates in den vergangenen Monaten ausgestellt worden.

Der Vorsitzende der konservativen „Partei des rechten Weges“, Süleyman Demirel, hat einen Mißtrauensantrag im Parlament gestellt. Demirel beschuldigte die Regierung des Wortbruches. „Falls die Schließung der Grenzen geboten war, hätte er dies vor zweieinhalb Monaten tun können, statt den Unsinn von der Aufnahme einer Million Menschen zu verbreiten.“ Auch die „Sozialdemokratische Volkspartei“ will sich dem Mißtrauensantrag im Parlament anschließen. Auch innerhalb der eigenen Partei ist Ministerpräsident Özal scharfer Kritik ausgesetzt. „Ein Fiasko“ - so ein Abgeordneter der regierenden „Mutterlandspartei“ gegenüber der taz. Zu offenkundig ist, daß die Rechnung Präsident Özals nicht aufgegangen ist.

„Es war ein Kampf zwischen Bulgarien und der Türkei, wer stärker ist. Bulgarien hat gewonnen“, bilanziert der angesehene Kommentator Mehmet Ali Birand. Er spricht aus, was viele über Özals plötzliche Kehrtwendung denken: „Özal hat uns lächerlich gemacht.“