„Auch BRD und DDR sollten den Pakt annullieren“

Eduards Berklavs (75), einst stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats der KP Lettlands, seit 1987 führendes Mitglied der Lettischen Nationalen Unabhängigkeitsbewegung (LNNK)  ■  I N T E R V I E W

Berklavs war im unabhängigen Lettland der dreißiger Jahre Mitglied der KP im Untergrund, wirkte dann aktiv bei der Eingliederung Lettlands in die Sowjetunion mit und war in den fünfziger Jahren stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats der Lettischen Sowjetrepublik. Als er sich dafür einsetzte, daß die einheimischen Letten mehr Rechte haben sollten als die Zuwanderer anderer Nationalitäten, wurde er wegen „nationalistischer Abweichung“ seiner Ämter enthoben und nach Zentralrußland verbannt.

taz: Was heißt es für Sie, wenn jetzt die Existenz des Zusatzprotokolls zum Hitler-Stalin-Pakt von der Moskauer Kommission zugegeben wird?

Eduards Berklavs: Die lettischen Leute haben von diesem Umstand immer gewußt. Jetzt jedoch kommt diese Anerkennung von oben. Der nächste Schritt ist, daß die Staatsgewalt sagen muß, daß dies von Anfang an nicht legal war. Politisch sind Lettland und Litauen besetzte Staaten.

Muß nicht auch die BRD als Nachfolgestaat des Deutschen Reiches dazu Stellung nehmen?

Ich bin der Meinung, daß es für alle drei Staaten Sowjetunion, DDR und BRD - gut wäre, den Vertrag zu annullieren. Wenn das Papier als illegal bezeichnet wird, ist das für die baltischen Länder eine starke politische Basis. Diese drei Staaten müssen auch erklären, daß sie moralisch verpflichtet sind, die Leiden von Millionen Litauern zu entschädigen. Danach kann man be ginnen, die Okkupation der baltischen Staaten abzubauen.

Welche Hoffnung setzen Sie in die Perestroika?

Die Bewegung in den baltischen Staaten unterstützt Perestroika total. Vieles der von Gorbatschow propagierten Perestroika ist bisher nur von ihm verbalisiert, aber noch nicht realisiert. Ich bin überrascht, daß der UdSSR, die so viele Versprechungen gebrochen hat, von westlichen Staatsmännern so sehr geglaubt wird.

Es wird oft argumentiert - nicht nur in Moskau -, die baltischen Bewegungen seien zu nationalistisch und eine Gefahr für die Perestroika.

Das ist bloß Moskaus Propaganda. Wir sind vielmehr auch für alle anderen Nationalitäten aufgeschlossen. Rund 35 Prozent der Staatsbürger Lettlands waren bis 1940 nicht lettisch. Ob Russen, Polen, Juden oder Deutsche: sie hatten alle die bürgerlichen Rechte und eine weitestgehende Kulturautonomie. Der lettische Staat hat sogar für deutschsprachige Hochschulen bezahlt. Aber die Letten sollten keine unterdrückte Minderheit in ihrem eigenen Land sein.

Geht es nun um staatliche Unabhängigkeit oder um Autonomie innerhalb der Sowjetunion?

Ein Lettland wie 1939 ist sicher nicht mehr möglich. Wir befürchten auch und sagen das den Leuten, daß, wenn Lettland unabhängig wird, es zu wirtschaftlichen Sanktionen seitens der Sowjetunion kommen kann. Ich glaube aber, daß Unabhängigkeit das wirkliche Ziel aller Letten ist. Bereits 400.000 haben sich ja schon für ein unabhängiges Lettland registrieren lassen. Das ist ein Drittel des lettischen Volkes, eine sehr starke Bewegung. Darunter befinden sich auch viele Nichtletten. Die lettische Volksfront nähert sich immer mehr der lettischen Unabhängigkeitsbewegung. Vor einem Jahr sprach die Volksfront noch von Autonomie, aber bei den Demonstrationen am 31.Mai hieß es zum Beispiel schon, daß die Unabhängigkeit das Ziel sein könnte.

Ist das nicht eher eine taktische Forderung, um möglichst viel Autonomie innerhalb der UdSSR zu erreichen? Oder wie wollen Sie die Loslösung erreichen?

Ich selbst und meine Leute glauben, daß Unabhängigkeit ein realistisches Ziel ist. Es dauert wahrscheinlich drei bis vier, wenn nicht fünf Jahre, und es gibt verschiedene Wege, deren erster der parlamentarische ist. Es gibt bereits sogenannte „Staatsbürgerliche Lettische Räte“, eine parallele Institution neben dem Obersten Sowjet. Sie könnten die Sowjets zwingen, demokratisch und in Richtung Unabhängigkeit zu handeln. Dann wäre es möglich, daß die Spitze dieses Rätekomitees den Obersten Sowjet überflüssig macht.

Es gibt aber noch einen anderen Weg, nämlich daß die Volksbewegung mit internationalen Organisationen wie dem Europaparlament und den Vereinten Nationen in Berührung kommt und diese den baltischen Länderen in juristischen und internationalen Fragen helfen. Wir werden an die europäischen Staaten, Frankreich, Großbritannien und BRD, aber auch an die USA appellieren, im Rahmen ihrer Außenpolitik mit Moskau den baltischen Staaten zu helfen. Die baltische Frage sollte bei diesen internationalen Beziehungen immer eine Rolle spielen.

Welche Hilfen erwarten Sie sich sonst von der Bundesregierung?

Wir wollen Hilfe aus dem gesamten demokratischen Spektrum, auch von den Grünen - und nicht nur von unseren traditionellen Unterstützern. Mit Wirtschaftshilfe sollte man allerdings bis zur Unabhängigkeit warten. Niemand in Lettland erwartet, daß aus dem Westen Geschenke kommen. Lettland hat jedoch sehr viel akademisch ausgebildete Arbeitskräfte, elektronische Datenverarbeitung und ist wirtschaftlich sehr progressiv.

Ab Januar 1990 werden die baltischen Staaten wirtschaftlich unabhängig. Wie werden sich die wirtschaftlichen Beziehungen zur UdSSR gestalten, wie zur EG?

Das ist keine ökonomische Autonomie. Nur 20 Prozent kommen in den Genuß dieser Unabhängigkeit, 80 Prozent der Industrie werden weiterhin von Moskau kontrolliert. Man redet zwar davon, daß eine lettische Kontrolle über diese 80 Prozent möglich sei, aber es gibt keine konkreten Schritte. Viele Betriebe der lettischen Wirtschaft arbeiten für die Rüstung. Und hier ist eine lettische Kontrolle dann sehr schwierig. Es gibt eben keine wirtschaftliche ohne politische Unabhängigkeit.

Wie könnte man denn das Wirtschaftssystem bezeichnen, das Sie anstreben?

Als gemischtes System mit Privateigentum in der Landwirtschaft und kleineren Betrieben, aber auch mit staatlichen Betrieben. Ein sozialdemokratisches System.

Interview: Luitgard Koch/Wieland Giebel