Das deutschere Deutschland

■ Wolfgang Venohrs „Die roten Preußen“

Die deutsche Einheit kommt bestimmt - unter diesem Titel erschien 1982 ein von Wolfgang Venohr herausgegebenes Buch, das rasch zum Bestseller wurde. Venohr brachte hier linke Autoren wie Peter Brandt und Herbert Ammon mit rechtskonservativen Autoren wie Hellmut Diwald zusammen. Allen gemeinsam war allerdings die nationale Haltung und das vehemente Eintreten für die deutsche Einheit. Dieses Thema bewegt Wolfgang Venohr in all seinen Veröffentlichungen. Ein großer Teil des vorliegenden Buches über die DDR skizziert die sich wandelnde Stellung der SED zur nationalen Frage.

„National“ muß keineswegs gleichbedeutend sein mit „reaktionär“ oder gar „rechtsextrem“. Es wird jüngere Leser vielleicht verwundern, wenn sie finden, daß sich die SED bis Ende der sechziger Jahre betont national gab. Dabei mußte der SED klar sein, daß eine deutsche Wiedervereinigung, insofern sie mit gesamtdeutschen freien Wahlen verbunden wäre, wohl das Ende ihrer politischen Macht bedeutet hätte. Warum warf sich die SED dennoch lautstark zum „Vorreiter der Nation“ auf? Venohr meint „a) aus sklavischer Abhängigkeit von der Sowjetunion, die im eigenen Interesse Westdeutschlands Wiederbewaffnung mit allen Mitteln verhindern wollte und deshalb das nationale, das gesamtdeutsche Bewußtsein des deutschen Volkes zu mobilisieren suchte, b) aus dem traditionellen 'preußischen Komplex‘ (...), der seit einhundertvierzig Jahren, seit den Befreiungskriegen von 1813, bei den ostelbischen Massen einen gesamtdeutschen Patriotismus erzeugt hatte, auf den die SED Rücksicht nehmen mußte“.

Die ab Anfang der siebziger Jahre von der SED vertretene These, es hätten sich angeblich „zwei Nationen“ in Deutschland herausgebildet, bezeichnet der Autor als Verrat an den besten Traditionen der Sozialisten. Als gesamtdeutsche Gemeinsamkeit der Eliten in Ost und West erscheint Venohr die Abkehr von der Nation. Die „Entdeutschungsorgie“, der „Hexenprozeß der Entnationalisierung“ in der DDR entsprachen der antinationalen Orientierung der „politischen Klasse“ Westdeutschlands, die seit Konrad Adenauer eine „separatistische“ Politik betrieben und „ihr Klasseninteresse eindeutig über das der Nation“ gestellt habe.

Auffallend ist, daß Venohr die DDR-Politiker Ulbricht und Grotewohl über weite Strecken positiv beurteilt, während er für Adenauer nur Verachtung übrig hat. Man muß kein Anhänger der von Adenauer betriebenen Politik der Westintegration sein, um den Tonfall, in dem der Autor über ihn schreibt, befremdlich zu finden. Der Stil der Auseinandersetzung entspricht noch weitgehend den innenpolitischen Kontroversen der fünfziger Jahre. Erhard Eppler hat in seiner bemerkenswerten Ansprache, die er zum 17.Juni 1989 hielt, dazu aufgerufen, eine offene, rationale deutschlandpolitische Diskussion zu führen und damit aufzuhören, den politisch Andersdenkenden als Verräter zu etikettieren. Dem ist zuzustimmen, denn es kann einem sachbezogenen Dialog nicht dienen, wenn von der einen Seite die Anhänger der Westbindung als „nationale Verräter“ bezeichnet werden und von der anderen Seite jene, die nach Alternativen zur Westbindung suchen, als „nützliche Idioten Moskaus“ diffamiert werden.

Ein wichtiges Thema in Venohrs Buch sind die wirtschaftlichen Erfolge der DDR. Die Soizialisierung der Schlüsselindustrien berurteilt der Autor eher positiv, die Verstaatlichung weiter Sektoren des Einzelhandels und der Dienstleistungen wird hingegen scharf kritisiert. Während sich die Unterdrückung der Eigeninitiative in diesen Bereichen negativ ausgewirkt habe, hätte die DDR in hohem Maße von den „preußischen Tugenden“ profitiert. Manche Thesen des Autors über die DDR-Wirtschaft bedürfen sicherlich der Korrektur, aber in einem hat er unbedingt recht: Die unbestreitbaren Erfolge der DDR-Wirtschaft (gemessen an Ländern wie Polen und der UdSSR) haben wenig mit der Wirtschaftsordnung zu tun, sind nicht systembedingt. Sie reflektieren eher die Wirksamkeit der „preußischen Tugenden“. Ordnungsliebe, Sparsamkeit, Disziplin, Fleiß und Pflichtbewußtsein sind für Venohr keineswegs „Sekundärtugenden“, die es „kritisch zu hinterfragen“ gelte, sondern eben jenes Erfolgsrezept, das auch den „unaufhaltsamen Aufstieg“ der „roten Preußen“ ermöglichte.

Was nach Ansicht des Rezensenten in Venohrs Buch zu kurz kommt: die Dimension der persönlichen Freiheit. Daß die SED ihren Bürgern weiterhin Freiheiten vorenthält und jegliche Opposition unterdrückt, wird zwar nicht verschwiegen, kommt aber nur ganz am Rande vor. Trotz dieser kritischen Anmerkungen: Venohrs Buch ist schon deshalb lesenswert, weil sich in ihm viele persönliche Erfahrungen des Autrors widerspiegeln, der übrigens 1969 als erster westdeutscher Journalist für ARD und ZDF Fernsehreportagen in der DDR drehen durfte. Zudem entziehen sich seine Urteile - mag man ihnen nun zustimmen oder nicht - den gängigen Klischees und Stereotypen. Der rechte Antikommunismus ist ihm ebenso fremd wie der linke Anti Antikommunismus.

Rainer Zitelmann

Wolfgang Venohr, Die roten Preußen - Vom wundersamen Aufstieg der DDR in Deutschland, Straube-Verlag, Erlangen/Bonn/Wien 1989, 360 Seiten, 38 Mark