Ich fluch lieber

■ Eine Erinnerung an den expressionistischen Dichter August Stramm (1874-1915)

Michael Trabitzsch

Wer ist August Stramm...? Ein toter Dichter der Deutschen, einer von den vielen, einer von denen, die wie Georg Trakl, Alfred Lichtenstein, Ernst Wilhelm Lotz starben in den Schlachten des Ersten Weltkrieges oder zugrunde gingen an dem Grauen, das sie nicht mehr tragen konnten. Herausgehoben aus der Masse der Namenlosen, den Millionen von Toten, die geopfert wurden für die Neuaufteilung der Welt, weil seine Dichtung überdauerte.

Für den Dichter August Stramm wurde die Begegnung mit Herwarth Walden, dem Herausgeber der Zeitschrift 'Der Sturm‘, zum entscheidenden Anstoß. Dieser verwies ihn auf Arno Holz, die Manifeste der italienischen Futuristen und die kunsttheoretischen Texte Kandinskys, die zur Standardausrüstung der avanciertesten Künstler gehörten. Nur schwer gewinnt man heute eine Vorstellung der Zeit zwischen 1910 und 1914, wo die Suche nach der neuen, der gültigen Form verbindliche Grundlage einer alle Grenzen überwindenden Auseinandersetzung war. Auf eine Kurzformel gebracht, erklärte Herwarth Walden: Revolution ist keine Kunst, aber Kunst ist Revolution. Unter Umständen ein mißverständlicher Satz -; aber es gab sie wirklich, die Internationale der Künstler. Und als der Krieg ausbrach, war allein sie es, die Bestand hatte. Strikt abgehoben war sie von der bourgeois -höfischen Konvention des Kaiserreichs und ihrem Widerhall in einem offiziösen naturalisierenden Klassizismus, der in saturierter Erhabenheit die Allianz von alter Macht und neuem Geld glorifizierte.

Nicht in der Politik, sondern in der Kunst folgte Ereignis auf Ereignis, die Jahre bis zum Krieg waren die Geniezeit der Moderne, bedeutsamer als die geschäftsmäßigen goldenen Zwanziger, bedingungsloser, radikaler, weiterdenkend. Gedrängt auf wenige Jahre war Berlin erstmals tatsächlich europäische Metropole, eine des geistigen, des künstlerischen Austausches. Und der geniale Vermittler, ihr Medium in persona war Herwarth Walden mit der Zeitschrift und der Galerie 'Der Sturm‘, eine Bezeichnung, die von Else Lasker-Schüler stammte und die Programm war: Sturm.

Ein Signum, das 1912 weltberühmt wurde und Berlin zum Zentrum, zum Fanal der Moderne machte. Oskar Kokoschka berichtet, daß 1913 ihm in Paris der 'Sturm‘ aus den Händen gerissen wurde. 1913 ist auch das Jahr, in dem Walden in den speziell dafür angemieteten Räumen in der Potsdamer Straße 75 eine der berühmtesten Ausstellungen des 20.Jahrhunderts veranstaltete: den „Ersten Deutschen Herbstsalon“, der seinen Namen dem Pariser „Salon d'Automne“ entlehnte und der - in diesem Ausmaß einmalig - einen gültigen Querschnitt der gleichzeitigen Strömungen der bildenden Kunst in Europa gab.

August Stramm lernte Herwarth Walden im März 1914 kennen, der 'Sturm‘ hatte sein Drama Sancta Susanna für den Abdruck angenommen. Im zweiten Aprilheft der Zeitschrift erschienen die ersten expressionistischen Gedichte von ihm. Bis zum Oktober 1915, einen Monat nach seinem Tod, enthielt von nun an fast jede Nummer Arbeiten von Stramm, der innerhalb kürzester Zeit zu dem dichterischen Repräsentanten des 'Sturm‘ schlechthin avancierte. Seine rigide Verkürzung ganzer Sätze und Verse auf einzelne, lauthaft isolierte Worte, deren rhythmische Reihung an die Stelle des gebundenen Versmaßes trat, begründete eine eigene Stilform des Expressionismus: die „Wortkunst“, die nach 1945 unter anderem von Arno Schmidt und den Dichtern der „Wiener Gruppe“ wiederentdeckt wurde.

Dann kam der Krieg und mit ihm die Weltwende. Das 20.Jahrhundert wurde in den Schlachten vor Ypern, bei den Gasangriffen, vor Verdun, an der Somme, bei der Höhe von Loretto geboren. Geboren als Massengrab einer ganzen Generation, die zum „Material“, zum Instrument einer in rasender Geschwindigkeit optimierten Maschinerie wurde. Im Trommelfeuer der die Leiber zerfetzenden Artillerie war das Individuum nur mehr Kreatur, hilflos, grenzenlos einsam, einem abstrakten Geschehen ausgeliefert, das mordete und tötete und mordete. Weltwende: Davon geben die Briefe Stramms an Nell und Herwarth Walden Zeugnis. „Was soll ich sagen. Es ist so unendlich viel Tod in mir(,) Tod und Tod. In mir weints und außen bin ich hart und roh... Das Wort schon stockt mir vor Grauen(.) Ich fluch lieber, fluche, tobe, reite, saufe, schlafe und hab‘ immer die Brust voll Weh. Weh, ich weiß nicht warum, nicht woher, wohin... Wo ist der Prediger des Mordes(,) der das Evangelium predigt des Mordes(,) des Mußmordes. Morden ist Pflicht ist Himmel ist Gott. Rasen.“

Die „Materialschlacht“, die Schlacht als „Blutmühle“, als welche Verdun vom Chef der Obersten Heeresleitung, General Falkenhayn, konzipiert wurde, war eine Neuheit des 20.Jahrhunderts. Eine einfache Rechnung zugrunde gelegt: Höhere Verluste der Franzosen lassen das französische Heer ausbluten -; und nach und nach wurden alle Reserven, wurde die Hälfte des Westheeres in diese Hölle getrieben, die 600.000 Tote und Verletzte auf beiden Seiten verschlang. Ins Feld geschickt wurden sie mit Begriffen wie Ehre, Rittertum, Tapferkeit; aber sie waren keine Ritter mehr, sondern Masse; und der Feind wurde nicht mehr besiegt, er wurde vernichtet.

Wie soll man davon noch erzählen, was ist daran noch begreifbar? Nichts - außer, daß eine Epoche unwiderruflich und unwiederbringlich im Blut versinkt; daß der einzelne sich mit letzter Energie an das Leben klammert. Daß er hofft, dem Zerrissenwerden entgehen zu können, welches zu Bildern führte, die keine Phantasie imaginieren kann: zu Torsi, die ohne Kopf noch einige Meter weiterlaufen, zu abgerissenen Armen, deren Finger weiter greifen, Halt suchen. Es gibt keine Erzählung von diesem Grauen, es gibt nur Briefe und Gedichte und Tagebuchaufzeichnungen. Unendlich verknappt in stenogrammhaftem Stil oder verdichtet zu Worten, die atemlos und gehetzt ausgestoßen, ins Gedicht gestoßen werden. Briefe: „Ich habe kein Wort. Ich kenne kein Wort. Ich muß immer nur stieren, stieren(,) um mich stumpf zu machen, um all das Gepeitschte niederzuhalten. Denn ich fühle es ganz deutlich, daß das peitscht und krallt nach meinem Verstand... Hast Du schon einmal einen Fleischerladen gesehen, in dem geschlachtete Menschen zum Kauf liegen, und dazu stampfen mit ungeheurem Getöse die Maschinen und schlachten immer neue in sinnreichem Mechanismus. Und Du stumpf darin(,) gottlob stumpf(,) Schlächter und Schlachtvieh.“

Gedichte: „Tode schlurren Sterben rattert Einsam Mauert Welttiefhohe Einsamkeiten.“

August Stramm wurde am 29.Juli 1874 in Münster geboren. Im Frühjahr 1905 wurde er als Postbeamter nach Berlin versetzt und war bis zum Ausbruch des Krieges in der Reichspostverwaltung tätig; er war verheiratet mit einer populären Unterhaltungsschriftstellerin und Vater zweier Kinder. Als Offizier der Reserve wurde er mit Beginn der Mobilmachung eingezogen und als Kompanieführer zum Landwehr -Infanterieregiment Nr. 110 bei Rastatt kommandiert. In der Folgezeit war er an den Kämpfen in den Vogesen um die Festung Neubreisach beteiligt. Von Mitte November bis Ende Dezember war Stramm Gerichtsoffizier im Oberelsaß. Hier entstand der Entwurf zu einem Drama, welches zunächst den Titel Krieg, später Bluten tragen sollte. Weil dieses den „Krieg in seinem furchtbarsten Grauen zeigt“, arbeitete Stramm, so schrieb er an Walden, es nicht aus: Er hielt die Veröffentlichung für ausgeschlossen.

Wie die meisten glaubte Stramm, daß Deutschland - wie der Reichskanzler Bethmann Hollweg verbreiten ließ - in „einem erzwungenen Kriege mit Rußland und Frankreich“ stehe. Wie die meisten fragte er nicht nach den Ursachen, nicht nach den Hintergründen. Wie den meisten war ihm der Krieg zugleich für einen Augenblick lang der große Reiniger von der Zweideutigkeit und Überlebtheit der preußisch -bürgerlichen Konvention. Die Begeisterung, das Pathos schwanden schnell, das Pflichtbewußtsein blieb, das Gefühl der Verantwortung. Als Walden im Sommer 1915 seine Freistellung vom Heeresdienst erreicht hatte, schlug Stramm das Angebot aus. Wie jemand, der nicht mehr wegkam von dem Geschehen, das schon so viele umgebracht hatte. Wie jemand, der nicht mehr weg kann, bis das Geschehen endet oder er selbst.

Anfang Januar 1915 wurde Stramm mit dem neugebildeten Infanterieregiment 272 in die Nähe des Flusses Somme, etwa die Mitte der Stellung Soissons-Arras, verlegt. Dieser Landstrich verschlang in den vier Jahren eine unvorstellbare Zahl von Leben. Stramm war schon tot, als im Juli 1916 hier das Inferno losbrach und eine Totenlandschaft hinterließ, die seitdem nach allen Seiten hin sich ausdehnte: In der kein Baum mehr stand und kein Tier mehr lebte - bis auf die Menschen in den Schützengräben.

„Ich habe das Wünschen aufgegeben, hier erstickt alles, und man hat keine Zeit zum Wünschen! Unaufhörlich bullert der Tod in den wahnwitzigsten und lächerlichsten Gestalten“, schrieb Stramm von dem alltäglichen Sterben. Ende April 1915 wurde sein Regiment in die Karpaten transportiert. Dort begann am 2.Mai die Schlacht von Gorlice-Tarnow, der Durchbruch durch die russischen Linien, die bis Mitte September um stellenweise 400 Kilometer nach Osten gedrückt wurden, unter ungeheuren Verlusten. Die Briefe berichten von Schlacht, Marsch, Schlacht, Marsch, Schlafen... Fast automatisch werden die Begebenheiten aufgezählt, abgestumpft ist die Empfindung. Geschrieben und gesprochen aber wird in ihnen von den unzähligen Werken, die Stramm noch zu Papier zu bringen hat: ein Kredit aufs Leben gleichsam, ein Anker, um nicht zu versinken in „dem Weinen, das mich überkrampft“.

Ende Juli bis Anfang August war er ein letztes Mal in Berlin auf Urlaub, war häufig mit Waldens zusammen. Vom Zug aus, schon wieder unterwegs zu seinem Regiment, schrieb er an sie, daß „die Reise mich doch ordentlich erquickt und mir nach langer Zeit die Welt auch mal wieder von einer bejahenden Seite gezeigt (hat). Jetzt werden wir die Negation schon wieder einige Zeit vertragen.“ Am 18.August erreichte er die Front, von seiner Kompanie lebten noch 25 Mann, ein Zehntel der Sollstärke. Das Regiment stand in der Schlacht um Brest-Litowsk; am 25.August berichtet er von Gefechten südlich der Stadt und schließt: „Ach, Kinder(,) wenn wir erst mal wieder dort sind und Frieden ist und wir die Sicherheit des Schaffens haben(,) was soll das für eine Zeit werden für uns alle! Märchenhaft! Traumhaft!“

Es ist sein letzter Brief. Zwischen dem 25.August und dem 16.September erfolgte der erneute Vorstoß deutscher Truppen gegen die Stadt Pinsk, etwa 150 Kilometer östlich Brest -Litowsks gelegen. August Stramm fiel am 1.September bei einem Sturmangriff über den Dnjepr-Bug-Kanal bei Horodec. Am darauffolgenden Tag wurde er auf dem jüdischen Friedhof des Ortes beigesetzt. Am 16.September traf die Todesnachricht bei Nell und Herwarth Walden ein. Die Septembernummer des 'Sturm‘ wurde ein schlichtes, ein ungeheures Dokument der Freundschaft. Jedes Heft hatte als Titelblatt eine Zeichnung, einen Holzschnitt veröffentlicht: Diesmal kündigte es den Tod Stramms an, ansonsten blieb es weiß.

1928 wurde August Stramm auf den Südwestfriedhof in Stahnsdorf bei Berlin überführt und dort zusammen mit seinem früh verstorbenen Sohn bestattet. Der Grabstein trägt die Inschrift „Tränen kreist der Raum“, es ist die erste Zeile der Dichtung Die Menschheit. Darunter ist eine Zeile aus einem unbekannten Gedicht seines Sohnes eingeschrieben.

Das Grab ist heute von Unterholz eingefaßt, es findet nur der, der weiß, wo genau er suchen muß. Der Friedhof, ein riesiges Areal umfassend, ist wie ein etwas verwilderter, sehr schöner Park. Die Grabstellen sind geborgen im Dickicht, das sie immer mehr einschließt und das kaum jemand mehr betritt. Ein Ort voller Frieden am Rande von Berlin. Angemessen dem, den der Krieg zerbrach.