Der letzte Sandinist, der alles erzählen kann

■ Tomas Borge berichtet in seiner Autobiographie von den Schlappen, Zwisten und Triumphen der Revolutionäre Nicaraguas

Vielleicht wäre Tomas Borge nie Guerillero geworden, wenn er Winnetou nicht gelesen hätte. Die Abenteuer und der Heldentod des edlen Apachen hinterließen einen tiefen Eindruck beim heranwachsenden Tomas im nicaraguanischen Provinzstädtchen Matagalpa. Dem Romanhelden gleich zu sein, war das höchste Ziel des jungen Tomas und seiner Freunde. Das Feindbild waren keine weißen Siedler, sondern das Somoza -Regime, das sich in Nicaragua bereits fest etabliert hatte, als Borge politisch zu denken begann. Nach Karl May kam dann Karl Marx. Zur Lektüre des dialektischen Materialismus führte ihn Carlos Fonseca Amador.

Mehr als eine Autobiographie ist Tomas Borges preisgekröntes Werk La paciente impaciencia - „Die geduldige Ungeduld“ - ein literarisches Denkmal für Carlos Fonseca, den Mitbegründer der Sandinistischen Befreiungsfront. „Eine fesselnde Vermengung von literarischer Qualität und präzisen Berichten des Zeitzeugen“, urteilte der uruguayische Dichter Mario Benedetti über das Buch, das im Mai im nicaraguanischen Vanguardia-Verlag erschienen ist. Und das angesehene Verlagshaus „Casa de las Americas“ mit Sitz in Havanna verlieh ihm seinen diesjährigen Preis in der Literaturgattung „testimonio“ - Zeugnis. Der deutschsprachige Leser muß sich bis Jänner 1990 gedulden, wenn das Buch unter dem Titel „Madrugada“ im Peter-Hammer -Verlag herauskommt.

Nicht nur Carlos Fonseca Amador, der Intellektuelle, der Asket, der keine Sekunde am Sieg der Revolution zweifelt, wird lebendig, sondern auch all die anderen Weggefährten des heutigen Innenministers, die den 19. Juli 1979 nicht erleben durften. Leute wie Silvio Mayorga, Julio Buitrago, Eduardo Conteras, Carlos Huembes, Juan Jose Quezada, German Pomares, die auf dem dornenreichen Weg von der ersten Verschwörung bis zum erfolgreichen Volksaufstand zurückgeblieben sind „die Toten, die niemals sterben“, wie Tomas Borge sie nennt.

Das Buch ist schon deswegen ein einzigartiges Dokument, weil Tomas Borge der letzte ist, der alles von Anfang an erzählen kann. Es berichtet zwar vieles, was längst bekannt ist, doch noch nie ist die Geschichte der FSLN so zusammenhängend und so lesbar aus der Perspektive eines der wichtigsten Akteure dargestellt worden. Von den Lesezirkeln in Matagalpa, wo auch Carlos Fonseca geboren wurde und seine Kindheit verbrachte, über die ersten Gehversuche im bewaffneten Kampf bis zum Tod Fonsecas im Gefecht mit der Nationalgarde im Jahre 1976. Carlos Fonseca war einer der ersten, der die historische und politische Bedeutung von Augusto C. Sandino erkannte, jenes ersten Guerillaführers des Kontinents, der in den frühen dreißiger Jahren in einem jahrelangen, zähen Kleinkrieg die US-amerikanische Besatzungsmacht zum Rückzug aus Nicaragua zwingen konnte.

Comandante Che Guevara

schickte die Gewehre

Schon als Student in der Universitätsstadt Leon war Tomas Borge in die erste Verschwörung verwickelt, wenn auch nur als passiver Mitwisser. Nach dem Attentat des jungen Dichters Rigoberto Lopez Perez auf Anastasio Somoza I. Wurde er als „gefährlicher Kommunist“ festgenommen, verhört und ins Exil geschickt. Wenige Jahre später gründeten Borge, Fonseca und eine Handvoll Freunde die „Sandinistische Front für die Nationale Befreiung“ (FSLN). Militärisch unterwiesen von Santos Lopez, einem Überlebenden aus Sandinos Befreiungsarmee, und ausgerüstet mit Waffen, die Che Guevara schickte, begannen sie von Honduras her einen Guerillafokus aufzubauen. Doch schon die erste Konfrontation mit der Nationalgarde Somozas endete mit einer nachhaltigen Schlappe.

Tomas Borge begann damals zu zweifeln, ob der bewaffnete Kampf der einzig gangbare Weg zum Sturz der Diktatur sei. Aber wenig später sind die Zweifel überwunden. Ein neuer Guerillafokus wird in Pancasan, in den Bergen von Matagalpa, aufgebaut. Auch dieses Experiment endet nach wenigen Monaten mit einem Massaker. Es beginnt eine „Phase der Kräfteakkumulation“: bessere Ausbildung der Guerillakämpfer und Aufbau einer sozialen Basis in den Städten. Erst Ende 1974, mit einer Geiselnahme im Hause des Somoza-Intimus Chema Castillo, tritt die FSLN wieder an die Öffentlichkeit. Das von Tomas Borge ausgebildete Kommando erzwingt die Freilassung der politischen Gefangenen, darunter Daniel Ortega, eine Million Dollar Lösegeld und die Veröffentlichung eines Manifests. Wenige Monate später gerät Borge selbst in Gefangenschaft, aus der er erst durch die Besetzung des Nationalpalastes im August 1978 befreit wird.

Im Verhör wurde Borge

schwach und redete

In Somozas Kerker erfährt Tomas Borge vom Freitod seiner ältesten Tochter Bolivia. „Nach jenem Tag rannte ich mit dem Kopf gegen die Gitterstäbe, brüllte ohne Zurückhaltung wie ein verletztes Tier, mein Leben ist nicht mehr komplett, denn mir fehlt jener Anteil Wärme, den ich ihr in diesem langen Winter nicht geben konnte.“ Und auch als Carlos Fonseca im November 1976 in einem Hinterhalt der Nationalgarde fällt, ist sein bester Freund im Gefängnis. Nach 500 Tagen Isolationshaft, wovon er über 200 angekettet verbringen muß, erreicht Borge mit einer Serie von Hungerstreiks und dank Solidaritätsaktionen im ganzen Land die Zusammenlegung mit anderen politischen Gefangenen.

Es ist ein ehrliches Buch, geschrieben in der blumenreichen, stellenweise poetischen Sprache, die man aus Borges zahlreichen Reden kennt. Der Autor zögert auch nicht, eigene Fehler einzugestehen. So gibt er zu, daß er im Gefängnis nach dem Somoza-Attentat 1956 brutale Foltern erfindet, um vor seinen Freunden zu rechtfertigen, daß er während des Verhörs schwach wurde. Jahre später wird er tatsächlich gefoltert, ohne zum Verräter zu werden. Er übt Selbstkritik, weil er in der Zeit, als die FSLN in drei Tendenzen zerfiel, zu wenig dialogbereit war. Und er hat die menschliche Größe, auch am Feind das Gute zu sehen. So verschweigt Borge nicht die positiven Erinnerungen an die ersten Begegnungen mit Eden Pastora, dessen Name in Nicaragua jahrelang nur mit dem Attribut „der Verräter“ ausgesprochen werden durfte. Beim Dichter Pablo Antonio Cuadra unterscheidet er zwischen den literarischen Qualitäten, für die er einen Platz unter den Größten des Kontinents verdiene, und der reaktionären politischen Linie des Direktors von 'La Prensa‘.

Erotische Phantasien

und Liebe zur Literatur

Aus seiner Schwäche für Frauen hat der Revolutionskommandant nie ein Geheimnis gemacht. Wir erfahren aber nicht nur von den Liebschaften im Exil und im Untergrund, von den schönen Augen der Campesinas und erotischen Phantasien in Kerkerzellen, sondern auch von der Liebe zur Literatur. Die innige Freundschaft mit den Schriftstellern Julio Cortazar und Eduardo Galeano beginnt mit der Lektüre ihrer Bücher im Gefängnis. Beide kommen später als Ehrengäste der Revolutionsregierung nach Nicaragua und werden zu persönlichen Freunden.

Die Erfahrung hat den heutigen Innenminister gelehrt, daß nur, wer konsequent ist, eine Chance hat, zum Ziel zu kommen. „Es ist unsere Pflicht, der reformistischen Vagheit und Dummheit energisch entgegenzutreten“, schreibt er in einem Nachruf auf den Mitkämpfer Ricardo Morales Aviles. Wer Tomas Borge kennt, weiß, daß er mit vielem, was die nicaraguanische Regierung in den letzten Jahren unter internationalem Druck tun mußte, nicht einverstanden ist. Und wer seinen Werdegang kennt, der versteht auch, warum.

Ralf Leonhard

La Paciente Impaciencia, Editorial Vanguardia, Managua, 1989. Voraussichtlich erscheint das Buch unter dem Titel „Madrugada“ im Januar '90 im Peter-Hammer-Verlag