Organtransfer - ein Pakt auf Leben und Tod

Die Stiftung Eurotransplant im niederländischen Leiden bringt länderübergreifend Organspender und -empfänger zusammen / Österreich, Bundesrepublik und Benelux koordinieren über die Organbank Angebot und Nachfrage im legalen Organgeschäft / Gesunde Herzen junger Unfallopfer als Hoffnung für Todgeweihte  ■  Aus Leiden Henk Raijer

Wie an jedem Werktag steigt Beate Winkler (*) auch an diesem Morgen ins Auto und fährt ihre beiden Kinder in die Schule. Eine Routinefahrt - so scheint es. Es ist 8.04 Uhr. Zehn Minuten später, unweit der Innsbrucker Innenstadt, kommt es zu einem fatalen Zusammenstoß: Ein Lastwagenzug rammt Frau Winklers Kleinstauto. Wie durch ein Wunder bleiben die beiden Kleinen unverletzt. Für die Mutter jedoch kommt jede Hilfe zu spät. Zwar kämpft bereits 15 Minuten nach dem Unglück im Innsbrucker Klinikum ein Ärzteteam um das Leben der Schwerverletzten. Aber schon werden Neurologen zu Rate gezogen; möglicherweise ist Beate Winkler gehirntot. Sie atmet nicht mehr selbständig, die Körpertemperatur sinkt unentwegt, das Gehirn zeigt keinerlei Aktivität mehr. Das Urteil dreier eilig herbeigerufener Gutachter lautet um 11.04 Uhr: gehirntod.

Im niederländischen Leiden läutet nur wenige Minuten später das rote Telefon: Der Transplantationskoordinator der Innsbrucker Klinik übermittelt telefonisch die Ergebnisse der noch vor dem Tod dieser „Multi-Organspenderin“ vorgenommenen Testreihen. Blutbild, Harnbefund, Leberwerte und Gewebetyp werden sofort in den Computer eingegeben. In Sekundenschnelle erscheinen auf dem Bildschirm des niederländischen Kollegen die Daten von 20 Patienten, deren Leben von solch tragischen Ereignissen geradezu abhängt. „Full House“ für Leber und eine Niere von Beate Winkler, ein „Mismatch“ für die andere. Wie einer der Mitarbeiter erklärt, habe einer der ausgewählten möglichen Empfänger zuviele Anti-Gene aufgebaut. Die Gefahr einer späteren Abstoßung des fremden Organs läßt es ratsam erscheinen, zunächst nur nach „Full House“ zu entscheiden. Insgesamt vier Menschen, zwei Österreicher, eine Deutsche und eine Belgierin, werden an diesem Vormittag benachrichtigt. Vier Menschen, die das Glück haben, daß die Organwerte des Unfallopfers mit den ihren ganz oder nahezu vollständig übereinstimmen.

Eurotransplant Leiden. Keine tiefgefrorenen Herzen, keine in Salzwasserlösungen schwimmenden Augen, keine präparierten sonstigen Innereien. Lediglich die winzig kleinen Röhrchen mit Gewebeproben in den steilen Schrankregalen des oberen Stockwerks erinnern hier an Krankenhaus. Zwar ist dieser länderübergreifende Organverschiebebahnhof in die Klinik der traditionsreichen Universitätsstadt integriert. Jedoch vermitteln weder Einrichtung noch Personal den Eindruck einer Intensivstation für Organkranke. 50 Quadratmeter Fläche zählt der Raum, in dem 24 Stunden täglich ca. 20 Mitarbeiter die internationale Warteliste „updaten“, neu in den „file“ aufnehmen und die angebotenen Organe auf „match„ -barkeit abklopfen. Schreibtische sind mit endlos langen Adressenlisten vollgepackt. Landkarten, die mit winzigen bunten Fähnchen markiert sind, geben Auskunft über die geographische Distanz zwischen Angebot und Nachfrage, über Empfängerkliniken und Anflugmöglichkeiten. Dazu kommen Dutzende Telefon- und Bildschirmgeräte: Eurotransplant Leiden - Hoffnungsträger Tausender wartender Organpatienten in der Bundesrepublik, Österreich und den Benelux-Ländern.

High-Tech-Ersatzteillager

1967 auf Initiative des Immunologen Professor Jon van Rood zur Förderung der Nierentransplantation ins Leben gerufen, ist Eurotransplant heute ein hochtechnisiertes Ersatzteillager für menschliche Organe aller Art. Über die „Organbank“ dieser niederländischen Kleinstadt unweit von Rotterdam werden seit mehr als zwei Jahrzehnten die legalen Geschäfte mit dem Leben abgewickelt. Wenn etwa hochkarätige, im amerikanischen Stanford ausgebildete Herzchirurgen nach spektakulärem Transport im Hochgeschwindigkeitsjet ihren Patienten die im Ausland entnommenen jungen Herzen einpflanzen, so kommen diese Transaktionen stets auf Vermittlung von Eurotransplant zustande.

Angeschlossen sind 70 Transplantationszentren in fünf europäischen Ländern. Hauptziel der Stiftung ist, das immer noch geringe Angebot an transplantablen Organen optimal und in internationalem Maßstab zu nutzen. Um den Erfolg dieser Koordinationsanstrengungen zu gewährleisten, hat Eurotransplant Kriterien aufgestellt, auf die sich die angeschlossenen Zentren verpflichtet haben. So wurde festgelegt, daß im akutem Fall, wenn etwa die Daten mehrerer wartender Patienten mit denen eines Unfallopfers übereinstimmen, immer zuerst die Zentrale verständigt werden muß, auch wenn dem Transplantationsteam in Hannover das Schicksal ihres sechsjährigen Stationslieblings Katrin näher am Herzen liegt als das eines ihnen völlig unbekannten Herzpatienten Frank aus Brüssel, der schon seit drei Jahren vergeblich auf ein geeignetes Ersatzorgan wartet und nur mit Hilfe einer Maschine überlebt.

Der „Pool“, die gemeinschaftliche Warteliste, verbessert die Chancen, Spender- und Empfängerwerte mit 100prozentiger Übereinstimmung („Full house“) auf schnellstem Wege zusammenzubringen. Die genaue und schnelle Bestimmung der Blut- und Gewebeproben des Spenders ist für die Transplantation von größter Bedeutung. Aus diesem Grunde haben sich die angeschlossenen Transplantationszentren auf drei Dringlichkeitsstufen für die Vergabe von gesunden Organen festgelegt. Die Rangfolge ist eindeutig: An erster Stelle entscheidet der hundertprozentig identische Gewebetyp. „Full House“, egal in welchem Land, hat immer Vorrang. Kommt keine „Full House„-Kombination zustande und ergibt sich nach telefonischer Anfrage bei Eurotransplant viermal ein „mismatch“, stellt Eurotransplant es dem anbietenden Zentrum anheim, eine „Haustransplantation“ vorzunehmen - nicht zuletzt deshalb, weil dadurch die teuren Flugkosten entfallen. Außerdem ist die Wartezeit eines Patienten von Bedeutung.

Die angeschlossenen Länder verfügen, wie bei einem Geldinstitut, über ein Spender- und Empfängerkonto. Zwar macht die gemeinschaftliche Anstrengung der angeschlossenen Länder ein ausgewogenes Konto, eine faire Zuteilung nach Ländern erforderlich. Dennoch verpflichten „Full House“ oder eine höchstmögliche Kompatibilität immer zur Weitergabe, unbenommen des jeweiligen nationalen Kontostands. Auf ihren jährlichen „Benutzertreffen“ verständigen sich die Transplantationskoordinatoren der 70 Zentren jeweils neu auf die Basisregeln. Auf Grundlage neuer Erkenntnisse werden diese von allen akzeptierten Vorschriften, wenn nötig, modifiziert. In naher Zukunft sollen die Transaktionen nicht mehr nur telefonisch abgewickelt werden, sondern die Transplantationszentren selbst werden ihre Daten dezentral einspeisen. Jedes Zentrum ist danach selbst verantwortlich für die Richtigkeit seiner Angaben sowie für die Aktualisiering der Daten.

„Gestorben wird überall“

40 Mitarbeiter sitzen bei Eurotransplant routinemäßig an den Pulten. 20 von ihnen sind Medizinstudenten in Teilzeitarbeit. Die Ärzte, ein Immunologe, ein Internist und ein Allgemeinmediziner (der sich hauptsächlich mit Augenhornhaut-Transplantationen befaßt), haben Bereitschaftsdienst. Ihr Rat wird verlangt, wenn etwa die Bestimmungsfaktoren der Spenderorgane vom Chirurgen des angeschlossenen Spenderkrankenhauses aufgrund seiner mangelnden Routine nicht ganz so eindeutig festgestellt werden können und nicht nur die administrative Überprüfung der Kompatibilität der Werte gefragt ist, sondern ein ärztliches Gutachten gebraucht wird. „Jedes einzelne Krankenhaus in den fünf angeschlossenen Ländern ist ein potentielles Spenderkrankenhaus. Gestorben wird schließlich auch auf dem Lande“, erläutert Bernadette Haaze, die Direktionsassistentin von Eurotransplant.

Bernadette Haaze ist wie all ihre MitarbeiterInnen selbstverständlich Inhaberin eines „Kodizill“, einer handgeschriebenen Spendererklärung. „Immer hat man diese Endlos-Warteliste vor Augen“, sagt sie, dennoch gehöre Spenderanwerbung nicht zum Auftrag von Eurotransplant. Allerdings gebe es eine intensive Zusammenarbeit zwischen ihnen und der niederländischen Stiftung „Arbeitsgruppe Spenderwerbung“, zu deren Vorsitz sowohl sie selbst als auch ihr Chef Professor van Rood gehören. „Die unmittelbare Umgebung, Verwandte und Freunde, sollen Bescheid wissen über die grundsätzliche Bereitschaft zur Organspende“, sagt sie. Zwar sei der Spenderausweis und das Hinterlegen einer Spendererklärung beim Notar ein juristisch verbindliches Dokument, dennoch befragen die Ärzte, laut Eurotransplant, grundsätzlich zuerst die Angehörigen. Erst danach überprüfen sie mögliche Spenderausweise und notarielle Verfügungen.

Haupthindernis für den ungehinderten Organfluß bilden die unterschiedlichen Gesetze der angeschlossenen Länder. Während in der Bundesrepublik und den Niederlanden der Gesetzgeber keine konkreten Richtlinien ausgegeben hat, wie zu verfahren ist, wenn der oder die Sterbende den eigenen Willen nicht mehr kundtun konnte und die Angehörigen einer Organtransplantation zustimmen müssen, gilt in Belgien und Österreich die „Widerspruchslösung“. Damit liegt in Österreich seit 1982, in Belgien seit 1987 die Entscheidung, welche Organe eines Gehirntoten weiterverwendet werden, allein bei den Ärzten. Lediglich die vorliegende Erklärung des Verstorbenen, in der er eine Organspende ausdrücklich ablehnt, kann die Plünderung seines Körpers verhindern. In den Niederlanden wird zur Zeit an einem Gesetzentwurf gearbeitet. Darin soll aber nicht die „Widerspruchslösung“ Rechtsgültigkeit erlangen, sondern das „Zustimmungssystem“: das „Kodizill“, die handgeschriebene Organspendererklärung etwa zwei von 15 Millionen Niederländer haben einen Spenderausweis - wird nach diesem Gesetz mittels eines zentralen Registiersystems ins Testament mit aufgenommen und ist folglich rechtskräftig.

Kommerzieller Organhandel

schlecht fürs Image

„Die technischen Möglichkeiten der Transplantationsmedizin haben die Nachfrage nach transplantablen Organen ins Unermeßliche steigen lassen“, erklärt Bernadette Haaze. Die Verpflanzung von Leber, Lunge und Darm funktioniere immer besser. Mit fremden Herzen hätten Todgeweihte heutzutage eine zumindest 50prozentige Chance, weitere fünf Jahre zu leben. Die Zunahme von Nierenpatienten - übrigens im wesentlichen eine Folge des Langzeitkonsums schmerzstillender Medikamente - habe die Warteliste expandieren lassen.

Unter dem Eindruck des Höhenflugs der Transplantationschirurgie hat sich auch die Diskussion über die Definition von Leben und Tod verschoben. Denn wie tragfähig ist eine medizinische Ethik, die ihre Definition von Leben oder Tod am Organbedarf orientiert? Gerüchte über die finsteren Machenschaften skrupelloser Organhändler, die auf lateinamerikanischen „Kinderfarmen“ Babys mästen, um sie dann in Teilen meistbietend in die USA zu verschieben, erschüttern Zeitungsleser wie potentielle Organspender gleichermaßen. Darauf angesprochen, meint Eurotransplant -Mitarbeiterin Haaze: „Auf unseren guten Ruf haben solche Wildwestgeschichten, von denen einige sicherlich nicht ohne Wahrheitsgehalt sind, nur bedingt Einfluß.“ Viel entscheidender sei, daß viele Organspender dadurch eingeschüchtert würden. Manche von ihnen hätten ihre „Kodizills“ fortgeworfen. Frau Haaze befürchtet, daß Zeitungsberichte, die immer wieder auf dieselben Quellen zurückgriffen, ohne daß sie eindeutig belegt seien, das ohnehin spärliche Spenderangebot zusätzlich verringern könnten.

Warteliste wächst

Der Zugriff auf den menschlichen Körper zwecks Verwertung seiner Einzelteile hat derzeit ein bisher unerreichbares Ausmaß erlangt. Gleichzeitig ist auch die Warteliste bei Eurotransplant lang. Denn die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage, die der Eurotransplant-Computer 1989 aufweist, wächst. Die Warteliste nimmt von Jahr zu Jahr zu. Zwar steigt auch die Zahl der Transplantationen. Nicht annähernd jedoch hält diese Expansion Schritt mit der Zahl der Neuerkrankungen. Vor einigen Jahren noch kamen Diabetes -Patienten nicht in Frage für eine Transplantation. Heute ist das ein Routine-Eingriff; die Gefahr von Abstoßung ist gering. 1988 standen bei Eurotransplant insgesamt 9.101 Nierenpatienten auf der Warteliste, davon 3.551 Neuanmeldungen. Lediglich 2.739 bekamen ein neues Organ. 442 Herzplantationen standen 1988 insgesamt 732 Wartenden gegenüber, 345 frische Lebern standen 503 Wartenden zur Verfügung, und 153 Bauchspeicheldrüsen-Kranke warteten auf ein neues Organ; von ihnen konnte nur 68 geholfen werden.

Die Eintragung in die Warteliste der Stiftung Eurotransplant ist ein „Pakt mit dem Tod“. Denn Hoffnung auf gesunde Organe gibt es nur durch den unnatürlichen Tod anderer.

*(Name von der Redaktion geändert)