Gefährliche Gratwanderung

Zu den Unabhängigkeitsbestrebungen im Baltikum  ■ K O M M E N T A R E

Die Bilder und Informationen, die uns in diesen Tagen aus den baltischen Sowjetrepubliken erreichen, erfüllen einen nicht nur mit Begeisterung, obwohl es auch dazu einigen Anlaß gibt: Der Eindruck manifestierten Willens der Bürger in diesen drei kleinen Staaten, die 1940/41 der stalinistischen Sowjetunion einverleibt wurden und dann weitgehend von der Bildfläche der Geschichte verschwunden waren, ihr Schicksal wieder selbst zu bestimmen, verdient gewiß Sympathie. Die vorbehaltlose Verurteilung des Paktes zwischen Hitler und Stalin, die sie fordern, kann man nur unterstützen.

Bedenken allerdings löst der Versuch aus, durch die Wiederherstellung des Status quo ante hinter die Geschichte zurückzukehren. Es ist das unbestreitbare moralische Recht der Esten, Letten und Litauer, wenn sie das wünschen, in ihrem eigenen Staat zu leben. Doch ist zu bedenken, daß es äußerst gefährlich ist, den politischen Umbruchprozeß, der in Osteuropa vor sich geht, mit Revisionen des territorialen Status quo zu verbinden. Das könnte den ganzen Reformprozeß auf lange Zeit hin zum Scheitern bringen.

Die Reformer im Kreml haben kein unbeschränktes Mandat von der Schicht erhalten, die noch immer die Macht in den Händen hat. Sie hatten bisher im Machtkampf deshalb Erfolg, weil sie die einzigen zu sein scheinen, die wenigstens ein Programm haben, zu verhindern, daß die Sowjetunion zu einer wirtschaftlich dahinsiechenden Regionalmacht herabsinkt. Falls aber ihre Politik ernsthaft die Gefahr mit sich bringt, daß die UdSSR auseinanderbricht, werden andere Kräfte die Oberhand gewinnen und andere Gesichtspunkte absolute Priorität gewinnen: Bewahrung der staatlichen Integrität nach innen und außen. Für die Titualarnationen in den baltischen Republiken würde das bedeuten, daß ihnen nicht - wie sie wohl hoffen - Finnland das Bild ihrer Zukunft zeigt, sondern eher der Kosovo. Das wäre selbstverständlich auch das Ende für die Reformer in Moskau, deshalb müssen sie alles daransetzen, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken auf tatsächlich gleichberechtigter und weitestgehend selbstbestimmter Basis umzubauen, so daß die Nationen und Republiken keinen Grund mehr haben, sie zu verlassen.

Die Bevölkerung in den baltischen Republiken hat bisher entschiedenen Willen mit Vernunft und Augenmaß verbunden. Man kann nur hoffen, daß es sich diese Fähigkeit auch künftig bewahrt. Das jähe Erwachen könnte sonst fürchterlich sein - nicht nur für die Menschen dort.

Walter Süß