Menschenrechte sind unteilbar

Für Freiheit und Brot: Ein Plädoyer gegen Andre Glucksmann  ■ D E B A T T E

Der französische Philosoph Andre Glucksmann fordert (in einem taz-Interview vom 14.7.89) die Abkehr von den Idealen der sozialen Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEDMR) von 1948 zum Ausdruck kommen. Glucksmann will ein Zurück auf den rein politischen, bürgerlichen Menschenrechtsbegriff von 1789: „Das Recht auf Freiheit steht über dem Recht auf Brot.„

Glucksmanns Position ignoriert insbesondere die gesellschaftlichen Realitäten in sämtlichen Ländern der Dritten Welt. Insofern sind seine Interview-Äußerungen ein trauriges Paradebeispiel für die eurozentristische Arroganz, die auch die offiziellen Feierlichkeiten zum 200.Jahrestag der Französischen Revolution kennzeichneten.

Der Streit ist so alt wie die Erklärung der Menschenrechte selbst. Freiheit oder Brot? ist die Frage, deren Eckwerte gleichzeitig zu Grundfesten eines ideologischen Streites um die Menschenrechte geworden sind, der bis heute die internationalen Debatten um die Menschenrechte bestimmt. Schon während der Französischen Revolution wurden Stimmen laut, die auf das innere Spannungsverhältnis von deklarierten Menschen- und Bürgerrechten hinwiesen. Die Menschenrechte seien zunächst Rechte des Privatmannes (bourgeois), dem die freie Verfügung über sein Eigentum garantiert werde. Dem ständen die Rechte des Bürgers (citoyen) gegenüber, Rechte des mit dem Gemeinwesen verbundenen sozialen Menschen, die viele Mitbürger durchaus als Beschränkung ihrer Freiheit erlebten. Das damit benannte Spannungsfeld ist insbesondere hinsichtlich der Frage der Sozialpflichtigkeit des Eigentums heute so aktuell wie damals.

Seit der Verabschiedung der AEDMR spielen die Menschenrechte bei der ideologischen Auseinandersetzung des Ost-West-Konflikts eine wichtige Rolle. Dem Gedanken der natürlichen, unveräußerlichen und unaufhebbaren individuellen Grundrechte des Menschen setzen die sozialistischen Staaten ihr Konzept entgegen, wonach alle Ansprüche lediglich von der Gesellschaft verliehene kollektive Rechte und Pflichten - und eher sozialer denn politischer Art - sind, die gemäß den Möglichkeiten und Bedürfnissen der Gesellschaft erweitert oder eingeschränkt werden können. Zwei Interpretationen, deren Auseinandersetzung auch die konkrete Ausgestaltung der Menschenrechte begleitete.

Vor diesem Hintergrund entpuppt sich Glucksmanns sogenannte philosophische Ableitung der Menschenrechte als Teil eines alten ideologischen Streits, der keinen Raum für neuere Reflexionen bietet, sondern aktuellere Tendenzen der Entwicklung bei der Interpretation der Menschenrechte verstellt. Ausgangspunkt einer philosophischen Definition der Menschenrechte ist nicht der Begriff der Freiheit, der im Gegensatz zum Brote steht, sondern ist der Begriff der Menschenwürde, wie er am Anfang der Präambel der AEDMR formuliert worden ist: „Da die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bietet.“ Bereits die zentrale Kategorie der Menschenrechte, die Würde des einzelnen Menschen, läßt eine bloß negative Definition nicht mehr zu. Menschenwürdiges Leben umfaßt immer beide Aspekte, Freiheit als verantwortete Freiheit, die immer nur in Hinblick auf den Mitmenschen als Freiheit zu definieren ist, und die notwendigen Lebens-Mittel. Aus diesem Begriff der Menschenwürde leitet sich die Unteilbarkeit der Menschenrechte ab. Dem versuchten auch die Vereinten Nationen Rechnung zu tragen, indem sie die beiden Menschenrechtspakte, den einen über bürgerliche und politische Rechte und den anderen über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die 1976 in Kraft traten, ausdrücklich als Zwillingspakte konzipierten.

Wer kein Brot hat, dem ist ein grundlegendes Menschenrecht verwehrt: das Recht sich zu ernähren, wie es der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (WSKR-Pakt) als Konkretisierung der AEDMR fortentwickelt hat. Wer kein Brot hat, der leidet an Hunger und Unterernährung, der steht bereits mit einem Bein im Grab. Das geht vielen hundert Millionen Menschen auf unserer Erde so. Und wo die Situation derart ist, daß eine Regierung ihren Menschen das Menschenrecht auf ausreichende Nahrung verwehrt, indem sie die ungerechten Wirtschafts- und Sozialstrukturen unangetastet läßt, da häufen sich auch die Verletzungen der politischen Rechte und Freiheiten der Menschen, die sich für mehr Menschenrechte und Gerechtigkeit einsetzen.

Die politischen Rechte gegenüber den sozialen hervorzuheben, wie Glucksmann es tut, ist blanker Zynismus angesichts der Lebensrealität der Armen dieser Welt. Tatsächlich gibt es im Rahmen des WSKR-Paktes materielle Verpflichtungen, die von Entwicklungsländern aufgrund fehlender Ressourcen nur schwer erfüllt werden können, wie ein an westlichem Standard orientiertes Schul- oder Gesundheitssystem. Aber es hieße, den Charakter der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte falsch zu verstehen, all diese Rechte als „anzustrebende“ Rechte anzusprechen. Während die oben genannten Faktoren einen zusätzlichen Input benötigen, erfordert die Durchsetzung vieler wirtschaftlicher und sozialer Rechte lediglich eine gerechtere Verteilung der existierenden Ressourcen. Das wichtigste Beispiel ist das Recht auf Nahrung. Das menschliche Nahrungsbedürfnis mag aus den verschiedensten Gründen nicht befriedigt werden, eine Verletzung des Rechts auf Nahrung ist hingegen stets durch Menschen verursacht und letztendlich ein Akt der Unterdrückung. Es ist auch kein Geheimnis mehr, daß alle Arten des vom Menschen gemachten Hungers wichtiger denn je geworden sind.

Nicht nur nationale Entscheidungen spielen bei den Verletzungen sozialer Menschenrechte eine bedeutende Rolle, sondern auch intenational wirkende Wirtschaftspraktiken.

Menschenrechtsverletzungen geschehen in krassester und häufigster Form in den ländlichen Gebieten der Dritten Welt. So absurd es sich zunächst anhört, so zutreffend ist es: Die meisten Leute, die an Hunger und Unterernährung leiden, leben auf dem Land. Weil sie zu geringe Löhne erhalten, über zuwenig Land verfügen oder ganz landlos sind. Andererseits fehlt diesen Gruppen eine Lobby, eine breite internationale Öffentlichkeit.

Die Nutzung von nationalen und internationalen Rechten gehört zum klassischen Inventar von Volksorganisationen in der Dritten Welt. Und geht man dem Rechtsbegriff in anderen Kontinenten nach, erkennt man schnell, daß in vielen Rechtskonzepten von fundamentalen Menschenrechten die Unteilbarkeit dieser Menschenrechte unbestritten ist. Gerade die Volksorganisationen vor Ort, die im Kampf um ihre Lebens -Mittel sowohl um Land als auch um ihre persönliche Unversehrtheit streiten, wissen, wie eng diese beiden Komponenten verknüpft sind. Wie oft wird der Kampf um das Recht auf Nahrung mit Gewalt und Folter unterdrückt, um die Durchsetzung dieses fundamentalen Menschenrechts zugunsten privilegierter Gruppen zu verhindern. Auch wenn Glucksmann nicht mehr zu sagen weiß, „wie der Mensch beschaffen ist, wie er leben, handeln und denken soll“, so muß er doch zugestehen: „Wir wissen nur, was er nicht machen darf.“ Dies wissen die Betroffenen, die für wirtschaftliche und soziale Rechte kämpfen, denen ihr Recht auf Nahrung durch Unterdrückung vorenthalten wird, nur zu gut. So ist in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 und in den Menschenrechtspakten nicht eine bestimmte „Utopie vom guten Menschen“ erstellt worden, die einem überholten Fortschrittsparadigma huldigt, sondern ein Rechtspaket geschnürt worden, das fundamentale Menschenrechte durchsetzen bzw. schützen helfen kann. Gerade „weil uns die Technik die Verantwortung zuträgt“ (Glucksmann), ist es notwendig, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte als Bestandteil eines menschenwürdigen Lebens durchzusetzen.

Frank Braßel, Michael Windfuhr

Mitarbeiter der internationalen Menschenrechtsorganisation FIAN (Food First Informations- und Aktionsnetzwerk)