Über den Berg: Fünfzig Jahre später: Auf einem Fluchtweg von Frankreich nach Spanien

Helmut Niemeyer ÜBER DEN BERG

Fünfzig Jahre später: Auf einem Fluchtweg von Frankreich nach Spanien

Der Knabe war klein, die Berge waren ungeheuer.“ Heinrich Manns erster Satz im Henri Quatre meint die Pyrenäen. Sie waren immer ein besonderes Gebirge - Sperre und Durchlaß: Goten und Mauren, Pilger und Schmuggler, Ignatius von Loyola und Maurice Ravel.

Roland der Recke fiel in der Schlacht von Ronceval. Dort ließ Heinrich Heine den tapferen und empfindsamen Bären Atta Troll zu Hause sein; es gab bereits reisende Engländer, Promenaden und Bäder. Als Tucholsky, der seinen Heine kannte, um 1930 in die Gegend kam, mußte er feststellen, daß die Zeit der feinen Leute auch dort zu Ende ging.

Inzwischen ist sie gründlich dahin. Auf Durchgangsstraßen und in engen Tälern der Pyrenäen ebenso wie an den Stränden ihrer Atlantik- und Mittelmeerseite stauen sich während der Ferienmonate immer wieder Wohnwagen und überladene Familienkutschen, Fahrräder auf dem Dach, Boote im Schlepp. Ampeln und Abgasschwaden, Imbißbuden und Klappstühle, dazu die Trillerpfeifen der Gendarmerie, Blaulicht, Ambulanzen: Godards Alptraum vom Weekend scheint bisweilen fast Realität, so daß es kaum überrascht, wenn in besonders heimgesuchten Ortschaften die Sprühparole „Tourisme Terrorisme“ erscheint. Viel Volk ist im Sommer unterwegs zwischen Hendaye und Cerbere.

Offensichtlich funktioniert unser relativer Friede. Man kann bei uns für sein Geld so ziemlich kaufen, was man will, und reisen, wohin man möchte. Bei Grenzübertritten in unserer Hemisphäre geht es vor allem um die Verkehrsregelung. Wer heutzutage hier und da herumfährt, hält das zumeist für selbstverständlich. Daß es nicht jederzeit so war, läßt sich nachlesen.

Die Pyrenäen waren immer ein besonderes Gebirge, und manche Vergangenheit liegt auch dort hinter der nächsten Ecke.

Es gibt noch die Fotos und Filmsequenzen von Frauen und Kindern, die unter Beschuß über die Brücke von Irun nach Hendaye laufen - eben da, wo jetzt der grenzüberschreitende Verkehr in beiden Richtungen möglichst zügig abgewickelt wird: Sommer 1937, als Francos Truppen das Baskenland besetzten. (Danach reiste man über Hendaye in das eine, über Cerbere in das andere Spanien ein.)

Klassische französische Forts bieten an manchen grenznahen Paßstraßen nach wie vor ein imposantes Bild, vor allem wenn eine große Trikolore über ihnen weht. Tucholsky beschrieb im Pyrenäenbuch ihre Kasemattenfinsternis und Mauerhöhe. Im Ersten Weltkrieg saßen dort deutsche Kriegsgefangene, im Frühjahr 1939 republikanische Spanier: so in der Festung Mont-Louis bei Bourg-Madame Angehörige der Division, die aus der Miliz des Anarchisten Durruti hervorgegangen war. Sie galten als besonders gefährlich. Die alte Republik Andorra heute für viele ein Free-Shop mit Hochgebirgskulisse - bot 1939 republikanischen Spaniern, 1944 französischen Kollaborateuren Zuflucht. Pau Casals ließ sich für lange Jahre im Städtchen Prades nieder und musizierte mit dem Blick auf den Mont Canigou; er hatte Spanien verlassen und blieb in Katalonien. Le Boulou (Thermalbad mit Spielkasino) und Argeles-sur-Mer (Sandstrand und Pinienschatten) zeigten seit langem im Michelin ihren Ranglistenplatz; im Frühjahr 1939 wurden sie weniger rühmlich bekannt als Internierungsplätze für spanische Flüchtlinge. Bald darauf mußten auch deutsche Exilierte ins Lager: Frankreich befand sich im Krieg mit dem Staat, in dem sie nicht mehr hatten leben können. Einige Monate später war die Dritte Republik am Ende. Deutsche, die bei ihr Schutz vor den eigenen Landsleuten gefunden hatten, suchten sich erneut zu retten. Ratloses Hin und Her vielfach am Rande der Pyrenäen Bayonne, Pau, Lourdes, Perpignan, die heute wohlbekannten Touristenstrecken... vergeblich, also wieder fort, nun vielleicht nach Marseille. Einiges von dem, was sich dort abspielte, vermag sich der Leser von Anna Seghers‘ Transit immerhin vorzustellen.

Frankreich hatte sich im Waffenstillstandsabkommen verpflichten müssen, den Reichsbehörden auf Anforderung jeden Emigranten auszuliefern. Ein französisches Ausreisevisum war unter solchen Umständen oft noch schwerer zu bekommen als Transit- und Einreisevisa ferner Länder. In neutralen Häfen gab es dieses Hindernis nicht.

Lissabon war ein neutraler Hafen, Sammelplatz also von vielen Schicksalen, Schnittpunkt verschiedenster Lebenslinien - Filmstoff, nicht nur von Remarque (Die Nacht von Lissabon) zubereitet. Nach Lissabon hebt auch im Kultfilm Casablanca am Ende die rettende Maschine ab. Weniger Melodramatisches, dafür Authentisches liegt uns inzwischen vielfach vor; insbesondere an die Berichte von Varian Fry (Auslieferung auf Verlangen, München 1986) und Lisa Fittko (Mein Weg über die Pyrenäen, München 1985; Neuauflage als Taschenbuch: München 1989) sei hier erinnert.

Lissabon war ein neutraler Hafen, aber er lag weitab und Spanien dazwischen. Also mußte man von Frankreich aus zunächst über die Pyrenäen, schlimmstenfalls illegal. In Marseille lauerten nicht nur Spitzel und Landhaie, es fanden sich auch selbstlose Fluchthelfer, die günstige Routen und Termine ausmachten, sich um Gepäckbeförderung und Quartier für ihre Schützlinge kümmerten, sie schließlich oft selber dort bis an die Grenze brachten, wo ein ungehinderter Übertritt möglich schien.

Am Freitag, dem 13.September 1940, gelangten auf diese Weise Heinrich und Nelly Mann, Golo Mann, Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel von Cerbere in Frankreich nach Portbou in Spanien. Ein Mitarbeiter Frys führt sie - „über den Berg“, wie Heinrich Mann später schrieb - zur unbewachten Grenze. Fry selber reiste als Bürger der Vereinigten Staaten unbehelligt per Bahn nach Spanien ein und brachte so das gesamte Gepäck der Manns und Werfels aus Frankreich heraus. In Portbou traf man sich wieder. Die Flüchtlinge hatten es geschafft. Sie waren nicht die einzigen, die an dieser Stelle durchkamen, im Gegenteil, die Route wurde verhältnismäßig oft benutzt und darum auf die Dauer zu gefährlich. Zwei Wochen später riet man der Gruppe, bei der sich Walter Benjamin befand, zu einem längeren und mühseligeren Weg nach Portbou von Banyuls aus. (Lisa Fittko hat dazu einiges mitgeteilt.) Doch auch der sozusagen direkte Weg war für die Betroffenen kein Spaziergang. Alma Mahlers und Heinrich Manns Memoiren, nach Art und Rang sonst kaum vergleichbar, stimmen darin überein. (Mit den Worten Heinrich Manns: „Am besten versetzte man sich in die Gewohnheiten der Ziegen.“)

Fast fünfzig Jahre später sind wir den Exilierten nachgeklettert. Die jungen Damen der Fremdenverkehrsbüros in Cerbere wie in Portbou waren gleichermaßen freundlich und leicht amüsiert. Selbstverständlich könnten wir über den Berg gehen, warum nicht? Leider gebe es dazu - ein rascher Blick über die Stapel bunter Prospekte - wohl kein Informationsmaterial. Das Gepäck blieb im Hotel in Portbou, der Wagen dort auf dem Parkplatz, als wir uns am nächsten Morgen auf den Weg zum Bahnhof machten. Er liegt hoch über der Ortschaft, die ihm ihre Existenz verdankt, ein wichtiger Umschlag- und Verschiebeplatz, Grenzstation: schmutzig -farblose Hallen, Büros, Magazine, ausgedehnte Gleisanlagen. Rangiergeräusche Tag und Nacht zwischen den Bergwänden, Tunnel ins Inland und nach Frankreich. (Ein solcher Punkt mußte bombardiert werden: In Portbou gab es während des spanischen Krieges immer wieder Tote und Trümmer. Die Züge warteten Angriffe im Tunnel ab.) Unter hohem Glasdach die Bahnsteige: Warten auf den Triebwagen nach Cerbere. Um uns Einheimische, Hausfrauen, Rentner, kleiner Grenzverkehr; dazwischen Inter-Rail-Jugend mit Riesenrucksäcken. Weder Polizei noch Zoll, gemeinsame Kontrolle durch Franzosen und Spanier erst in Cerbere. Schließlich ging es ab, wir rollten durch den Tunnel, passierten im Bahnhof die Kontrollschranken und standen dann auf dem Markt von Cerbere.

Was weiter? Der Felsrücken, der sich dort ins Meer schiebt und hinter dem Spanien beginnt, ist unübersehbar. Die Straße nach Portbou führt von der Küste weg und in großem Bogen um ihn herum. Wie also nun hinauf und hinüber, möglichst wenig gesehen und ohne länger die Straße zu berühren? Heinrich Mann meint sich zu erinnern, daß die Gruppe beim Aufbruch ihren amerikanischen Begleiter aus den Augen verlor: „Wir fragten einen jungen Einheimischen, der uns gleich verstand. 'Nach Spanien? Hier.‘ Die Hand des Mannes riet uns, von der Straße abzuweichen auf einem kaum gebahnten Anstieg.“ Anders - und dem Bericht Frys entsprechend - schreibt Alma Mahler: „Gleich nach dem Ortsende bog der junge Amerikaner von der Straße ab und ging auf steinigem Pfade steil aufwärts.“ Wie nun immer: „von der Straße ab“, „steil aufwärts“ - das mußte auch noch fünf Jahrzehnte später gelten. Ohne Angst vor Ortspolizisten oder Grenzpatrouillen und ohne Weisungen eines „jungen Amerikaners“ wandten wir uns daher am Friedhof nach rechts bergauf und schnitten so eine Serpentine der Straße ab. Wir mußten sie noch einmal überqueren, dann war sie für uns hinter Steinblöcken und Gebüsch verschwunden. Einen richtigen Weg gab es schon bald nicht mehr; so etwas wie ein Pfad, besser: eine Spur ließ sich zwischen dürftiger Vegetation ahnen. Im Grunde brauchte man nur immer vorsichtig da weiterzusteigen, wo es am leichtesten möglich war. So kamen wir bald höher, mußten manchmal aufpassen, wenn Geröll sich unter den Füßen lockerte, auch wohl einmal die Hände zu Hilfe nehmen, gerieten aber nie sehr nahe an abschüssige Wände. Orientierung denkbar einfach: kein dichter Wald, kein Watt im Nebel. Unversehens eigentlich waren wir oben, auf dem Kamm, über den dort die Grenze verläuft. Vor uns das Meer, an diesem Morgen auf der französischen Seite blau leuchtend, vor der Costa Brava eher in stumpfem Grau. Überraschender noch der Blick zur Seite rechts und links: in nahezu spiegelbildlicher Entsprechung die Städtchen Portbou und Cerbere, beide bunt und winkelig gelagert an kleinen Buchten, mit dem Gewimmel sommerlicher Badeorte, dahinter die viel zu großen Bahnhöfe getrennt durch den Berg unter uns, verbunden durch den Tunnel in dessen Tiefe.

Ein Stück Grenzland aus der Vogelperspektive, wohl überschaubar und eng beieinander das Ganze. Aber von der einen zur anderen Seite - daran hing für viele einmal alles. Heute löst man eine Fahrkarte für etwa 90 Pfennig oder nimmt das Auto (ein paar Kilometer ordentlich ausgebauter Straße) oder geht - warum nicht? - zu Fuß, alles in allem keine zwei Stunden von Ort zu Ort, wenn man sich Zeit läßt. Wir ließen uns Zeit: niemand hier oben, Stille. Der nackte Stein, splittriger Schiefer. Holzige Kräuter mit starkem Duft, blühende Disteln, Grashüpfer, leere Schneckenhäuser. Im Wind einzelne Möwen. Dann weiter landeinwärts über den Kamm: von Grenzmarkierungen nichts zu sehen, hin und wieder ein Stück Mauer aus kniehoch geschichteten Steinen wie in alten Olivengärten. Später ein Schild, das in spanischer Sprache auf privates Jagdterrain verweist, im Thymian Hülsen von Schrotpatronen, Kaninchenkot. Schließlich vor uns unten wieder die Straße: auf ihrer Paßhöhe die Grenze erkennbar an nationalen Unterschieden der Asphaltierung. Zwischen Brombeeren, Opuntien und neu gesetzten jungen Pinien kamen wir, manchmal etwas rutschend, hinunter. Auf der Paßhöhe selbst gibt es ein bescheidenes Grenzschild, die Fahrzeugkontrolle aber findet inzwischen - ebenfalls durch Spanier und Franzosen gemeinsam - hinter der nächsten Kurve auf französischem Boden statt. Das alte Wachhaus, eine Miniaturfestung wie aus einem Baukasten der Jahrhundertwende, wird nicht mehr benutzt; Halterungen für einen Schlagbaum sind noch zu erkennen. Dort dürfte damals der Posten gestanden haben, bei dem sich die Flüchtlinge meldeten und der sie zur weiteren Überprüfung nach unten schickte. Mancherlei Trinkgelder waren fällig, doch ernsthafte Schwierigkeiten gab es für sie nicht mehr; das berichten Alma Mahler wie Heinrich Mann. Ihre Papiere wurden akzeptiert. Erleichtert und erschöpft (Heinrich Mann war immerhin 69 Jahre alt, Werfel herzkrank; den Frauen bluteten die Beine unter zerrissenen Strümpfen) nahm die Gruppe in Portbou mit einer zeitgemäß bescheidenen Unterkunft vorlieb. Unser Zimmer - zweifellos komfortabler - war reserviert. Wir ließen uns noch einmal Zeit: kein Mensch hier, der irgend etwas kontrollierte.

Gegenüber der alten Wache ein Granitpfeiler „Zum Gedenken an die Gefallenen der 4.Navarra-Division, die am 10.Februar 1939 diesen Platz einnahm“ - nur mit Mühe zu lesen, zweimal überschmiert. Nahe dem geschlossenen Wachhaus ein geöffneter Pavillon vom Touring Club, auf der Straße Touristenautos und Taxis in beiden Richtungen, strahlende Sonne, freundlicher Betrieb. Zwischen terrassierten Hängen stiegen wir weiter abwärts. Für das Mittagessen war es noch zu früh, wir konnten in Ruhe duschen.

Wir sind den Exilierten nachgeklettert, es war kein Abenteuer. Diese (zur Zeit) harmlose Grenze läßt sich (zur Zeit) nach Belieben überschreiten. Man braucht auch keine besonders sportliche Kondition dazu, kann es sacht angehen lassen, niemand drängt oder droht. Unser relativer Friede funktioniert. Aber manche Vergangenheit liegt hinter der nächsten Ecke. Die Pyrenäen als Sperre und Durchlaß: Dort ging es einmal für viele um alles, um Leben und Tod zunächst, doch auch um die Trennung von Angehörigen und Freunden, von Erfahrungen, Überzeugungen, Hoffnungen, von Lebensformen, Sprachlandschaften.

„Über den Berg“ führte der Weg hinaus aus Europa. Walter Benjamin hat ihn nicht mehr betreten. Heinrich Mann, der kurz vor der ersehnten Rückkehr in Kalifornien starb, ahnte vielleicht, was ihn auf dem Boden der Heimat erwarten würde. Aber er wußte, was er zurückgelassen hatte - er wußte es nicht allein:

„Der Blick auf Lissabon zeigte mir den Hafen. Es wird der letzte gewesen sein, wenn Europa zurückbleibt. Er erschien mir unbegreiflich schön. Eine verlorene Geliebte ist nicht schöner. Alles, was mir gegeben war, hatte ich an Europa erlebt, Lust und Schmerz eines seiner Zeitalter, das meines war; aber mehreren anderen, die vor meinem Dasein lagen, bin ich auch verbunden.

Überaus leidvoll war dieser Abschied.“

Aus: Tranvia, Revue der Iberischen Halbinsel, Nr.13, 1989