Zentrale der Borniertheit

■ Ein Blick auf die Zukunft des Fernsehens aus dem Jahre 1929

Achtung! Achtung! Wir feiern den Geburtstag unseres lieben deutschen Rundfunks. Achtung! Herr Molkereibesitzer Bräsig spricht über „Kuhfütterung im Frühjahr„; jetzt spielt das Quartett W.X.Y.Z.; wir schalten jetzt um auf Schenectady in Amerika; der Reichspräsident hat soeben den Saal betreten, wir bringen seine Eröffnungsrede; Teemusik aus dem Hotel Adlon; Schuberts Gesammelte Werke; die Klassiker mit verteilten Rollen gesprochen; Regie: Kuno Meyer, unser beliebter Rundfunkregisseur, früher erster Liebhaber in Kyritz an der Knatter; moderne Dichtung, ja, das schon gewiß auch; jetzt spricht Herr Wolfgang Schwarz, aber er spricht garnicht, es ist vielmehr sein Spezialfeind, der Kommuniste; Frauen und Kinderpflege im Herbst; Liebe und Ehe im 20. Jahrhundert; und so fort und so fort ad infinitum---.

Und all das wird ins Haus geliefert, gegen geringes Entgelt, wie Wasser und Elektrizität; nur daß es sich hier um Geistes-Quell-Trinkwasser und Geistes-Elektrizität handelt, mit der wir unsere Stuben je nach dem zwar erhellen, eventuell aber auch verdunkeln können - und die ganze Sache hat einen harmlosen Namen bekommen, einen, der sogar technisch verkehrt ist, der jedenfalls nichts oder nicht das Richtige besagt. Die passende Bezeichnung müßte noch dafür erfunden werden, für diese Zentrale des Wissens oder der Borniertheit, der Bildung oder des halbschiefen Feuilletonismus, des Musizierens, Theatersprechens, der Nachrichtenvermittlung, für dieses Institut, das in einem ist: Zeitung, Ohr in die Welt hinaus, Volkshochschule, Oper, Theater, Tribüne der Zeit, Podium ohne Grenzen; Mittler zu so ziemlich allen Werten und Unwerten, die es gibt.

Dabei ist das heute - Verbreitung von Musik und Sprache doch nur der allererste Anfang. Jetzt kommt der zweite Schritt, noch verblüffender als der erste. Von allen Erfindungen dieser Zeit ist die des drahtlosen Fernsehens nicht nur die vielleicht zauberhafteste, sondern auch die folgenreichste. In London sah ich die Apparate, mit denen zum ersten Male Menschen über den Ozean geblickt haben, von London nach New York; das sind keine Einzelexperimente mehr, sondern die Apparate sind bereist im Radiohandel, kosten zwischen vierhundert und dreitausend Mark. An sechs amerikanischen Stationen werden schon Fernsehversuche gemacht, eine holländische wird demnächst dazu kommen. Man hört dabei wie im Rundfunk, sieht gleichzeitig die betreffenden Personen und Gegenstände, nicht als Einzelbilder, sondern in ihrer Bewegung wie im Film, als seien sie im gleichen Raum, während sie beliebig viel Kilometer weit entfernt sind.

Diese Erfindung des Fernsehens wird folgendes bewirken. Man wird, jeder in seinem Zimmer, nicht nur wie bisher alles hören können, was auf der Erde an irgendeiner Stelle erklingt, sondern auch gleichzeitig sehen, was dort vorgeht, wo der Sendeapparat aufgestellt ist. Der wird beweglich sein, wie schon jetzt beim Rundfunk die Aufnahmemikrophone, transportabel, wohin man will. Wohin die Sendegesellschaft will. Wird man ihn auf einem Auto anbringen, das durch Indien fährt, so werden hier die Rundfunkzuschauer die ganze Reise verfolgen können, auf einer Mattscheibe vor ihrem wahrscheinlich dann auch sehr billigen Empfänger. Übrigens werden diese Fernbilder sowohl farbig als auch plastisch sein; auch diese Erfindungen sind schon fertig. Wie jetzt Konzerte und Worte vieler Art, soweit es die allmächtigen Herren der Sendegesellschaften eben erlauben (o herrlicher und natürlich absolut notwendiger Kommunistenwitz, durch diese Sperre einmal durchzudringen), so wird dann die ganze Welt in Auswahl ins Haus geliefert; natürlich auch Theater, Oper und, was technisch am einfachsten ist, Film. Natürlich auch: der Empfang des berühmten Boxers Dovkopp in New Orleans, oder Szenen aus der chinesischen Revolution, die sich im gleichen Augenblick abspielen; je nach dem, wer die Sendeorganisationen beherrscht; was wiederum davon abhängt, wie viele und wie aktive Leute kapieren, was da die Technik dem Menschen eigentlich für eine Gabe überreicht.

Weiter: Wie man jetzt Senderäume zur Klangverbreitung benutzt, werden sich die Rundfunkgesellschaften bald solche zur Sendung des lebenden Fernbildes bauen, in der Art von Theatern, Opernhäusern und ähnlichem. Es wird also zum Beispiel eines, wahrscheinlich sehr nahen Tages, die Berliner Funkstunde ein Theater haben, aus dem erstens die Vorstellungen gesandt, dessen Aufführungen zweitens dem Publikum unmittelbar zugänglich sein werden. Ein solches Theater wird nicht nur einen größern, ja, den vertausendfachten Wirkungsgrad haben als jedes andere, sondern auch eine finanzielle Basis, wie sie, solange die Erde sich dreht, kaum erträumt werden konnte. Es wird nämlich von vornherein über gesicherte Rieseneinnahmen verfügen, von der durch das Sendemonopol faktisch erzwungenen Publikumsorganisation, die ja so etwas ist wie die Volksbühne in gigantischem Maßstabe, nur daß die Mitglieder sich nicht ausschließen können, wenn sie nicht auf Rundfunk und Fernsehen überhaupt verzichten wollen.

Gegenwärtig, im ersten Stadium der Entwicklung, hat, das mag noch dazu bemerkt werden, der deutsche Rundfunk zirka 2,3 Millionen je zwei Mark im Monat zahlender Hörer, davon erhält die Post zwei Fünftel, bleibt ein Rest für die Sendegesellschaften von zirka 2,6 Millionen Mark im Monat, die ihnen eine einzigartige Machtstellung auf allen in Frage kommenden Gebieten sichert.

Frank Warschauer

Der Artikel erschien 1929 zuerst in der Frankfurter Zeitung, wurde dann von Ernst Glaeser in seinem „Querschnitt durch die deutsche Publizistik“, der unter dem Titel „Fazit“ 1929 im Gebrüder Enoch Verlag erschien, nachgedruckt. Wir bringen hier nur den ersten von drei Abschnitten.