Suez kriegt den Kanal nicht voll

Kampf zweier Linien um die Allfinanz im EG-Frankreich: Die „technokratische“ Finanzholding Suez will die „klassisch“ geführte Versicherung Victoire schlucken / Auslöser: Victoire-Chef wollte Suez für den Ankauf der Colonia-Versicherungen zahlen lassen  ■  Konfusion im

Binnenmarkt

Teil 30: Alexander Smoltczyk

Vorhang auf zum Börsenspektakel der diesjährigen Pariser Saison. Das Stück „Suez macht Vernes und seinen italienischen Kumpanen die Victoire streitig“ wird unter großer internationaler Beteiligung im Palais Brongniart gegeben, der Pariser Börse. Der Aufführungsort bürgt für die Vereinigung spekulativer, persönlicher und politischer Motive zu hochkomplexen Handlungssträngen. Entsprechend groß ist die Spannung des Publikums, das bislang noch vor geschlossenen Schaltern wartet. Doch das Warten lohnt sich, stehen doch mit 23 Milliarden Francs (knapp sieben Milliarden Mark) keineswegs geringe Summen auf dem Spiel.

Doch der Reihe nach. Zunächst die Hauptdarsteller: Beide sind besten Geblüts und auf ihre Weise Prototypen zweier Konzeptionen von französischem Kapitalismus. Da wäre einmal Renaud de La Geniere, calvinistischer Exchef der Zentralbank Banque de France, dessen offiziöse Appelle an die erste Mitterand-Regierung zur Mäßigung in den wilden Jahren des deficit spending 19811983 unvergeßliche Zeugnisse eines Diskurses der extremen Mitte bleiben werden. Nachdem diese Mitte 1986 wieder an die Macht kam, wurde La Geniere zum Präsidenten von Frankreichs zweitgrößter Finanzholding, der „Compagnie financiere de Suez“, die einst zur Finanzierung des gleichnamigen Kanals gegründet wurde. La Geniere ist, soviel sei verraten, ein Wahlverwandter des liberalen Expremiers Raymond Barre und zugleich jemand, der seinen Frieden mit den marktwirtschaftlich geläuterten Sozialisten gemacht hat: „Wir sind weder barristisch noch chiraquistisch noch sozialistisch - wir sind kapitalistisch“, lautet sein Credo.

Sein Kontrahent ist Jean-Marc Vernes, der gewiefte Anhänger des Neogaullisten Jacques Chirac und im Gegensatz zu La Geniere eingeschworener Feind jeder sozialdemokratischen Mischwirtschaft. Dazu mag beigetragen haben, daß Vernes‘ Familienbank „Banque Vernes et Commerciale de Paris“ 1982 - horribile dictu! verstaatlicht wurde (und, sei an dieser Stelle bemerkt, als späterer Bestandteil der ebenfalls verstaatlichten Suez mühsam aus den roten Zahlen gezerrt wurde). Vernes präsidiert heute der „Compagnie Industrielle“, einer Holding, die im Zentrum der Handlung steht. Zugleich, pikantes Detail, ist er ein enttäuschter Liebhaber von Suez, wollte er doch stets ihr Chef werden, bis der Finanzriese 1982 verstaatlicht wurde. Später, 1986, wurde Vernes beim Buhlen um den Vorsitz bei Suez von einem alten Bataillonskumpan ausgebootet: Renaud de La Geni ere. Die Freundschaft war zu Ende.

Doch jenseits allen Männerstreits stehen sich mit La Geniere und Vernes zwei Typen von Kapitalismus gegenüber, die nicht allein in Frankreich aufeinanderstoßen: der technokratische Unternehmer und der clan-verhaftete „Patron„. Vernes gehört zu letzterem Typus. Er ist ein Liberaler in seinen Worten und ein Stamokapler in seinen Taten, der Politik in altfranzösischer Manier macht, indem er seine Partei, in diesem Fall Chiracs RPR, entscheidende Positionen besetzen läßt. Vernes setzt auf Familienbande, La Geniere auf Zweckgemeinschaften. Welche Strategie in unseren deregulierten Zeiten mehr Chancen haben mag, wird sich zeigen - das Stück „Suez gegen Vernes“ kann insofern auch als Premiere gesehen werden.

Zur Handlung dieses Stückes. Blicken wir zurück: Alles beginnt, wie so vieles in Frankreich, im Mai 1981. Die Sozialisten machen sich daran, Suez, die Speerspitze des Finanzkapitalismus, zu verstaatlichen, müssen zu ihrem großen Erstaunen jedoch feststellen, daß die Perle der Holding, die Versicherungsfirma „Victoire“, längst den Besitzer gewechselt hat. Jack Frances, der Chef der mächtigen Tochterbank „Indosuez“, war der Bösewicht, der aus Angst vor der Volksfront heimlich die Besitzrechte der Victoire auf seine „Compagnie Industrielle“ übertragen hat. Skandal! Nun, es kommt zum Kompromiß, und Suez werden zum Trost 18.5 Prozent der Anteile an der Compagnie Industrielle zugesprochen. Den mit 25,3 Prozent größten Teil der Compagnie hält die SCI („Soci'et'e Centrale d'Investissement“), in der Jean-Marc Vernes und Marcel Dassault, Frankreichs reichster Mann und Rüstungszar, den Ton angeben. Chef der SCI ist selbstverständlich Jean-Marc Vernes.

Das Machtgleichgewicht in der Compagnie Industrielle verrutscht im Juni dieses Jahres, als Frances pensioniert wird und (statt eines Unparteiischen, wie Suez gehofft hatte) dessen alter Freund Vernes die Nachfolge auf dem Präsidentenstuhl der Compagnie übernimmt. Automatisch wird Vernes damit auch Chef der Victoire-Versicherung. Die Freunde

An diesem Punkt nun setzt unser Stück ein. Erster Akt. Anfang Juni beginnt der Börsenkurs der Compagnie Industrielle auf sonderbare Weise zu steigen, ja, er verdoppelt sich innerhalb weniger Wochen. Die Börsenaufsicht strengt ein Verfahren an. Insider-Manipulationen? Keineswegs: Es waren nur Mitglieder des Vernes-Clans, die sacht begonnen hatten, Anteile der Compagnie beim Publikum aufzukaufen, um in deren Aufsichtsrat Vernes‘ Position gegenüber Suez zu stärken.

Die Analysten von Suez wollen herausgefunden haben, daß sich hinter den geheimnisvollen Aufkäufern auch Raul Gardini verbirgt. Gardini - der Boß des italienischen Agrochemiekonzerns Ferruzzi, der mit der größtem italienischen Versicherung „La Fondiaria Assicurazioni“ und 25 Prozent der Volksfürsorge bereits auf dem EG -Versicherungsmarkt Fuß gefaßt hat.

Suez-Chef La Geniere sieht angesichts dieser klammheimlichen Clan-Operation „die Struktur der Victoire -Gruppe bedroht“, denn -wir vergaßen es zu sagen - die Compagnie Industrielle hält mit 40.2 Prozent den Löwenanteil an Victoire gegenüber den 34 Prozent von Suez. Wächst also das Gewicht des Vernes-Clans in der Compagnie, so hat dies direkte Auswirkungen auf das Kräfteverhältnis in der Victoire. Der Anlaß

Zweiter Akt. Victoire, die jährlich acht Milliarden Dollar Versicherungsprämien einnimmt, gibt Ende Juli den Erwerb der sechstgrößten bundesdeutschen Versicherungsgruppe, der „Colonia“, bekannt. Damit würde Victoire über Nacht, mit 50 Milliarden Franc oder 15 Milliarden Mark Umsatz, zur zweitgrößten Versicherungsgruppe Frankreichs geraten. Wußte Gardini von diesem Coup? Es ist anzunehmen, daß er als enger Vertrauter Vernes‘ von dessen Verhandlungen mit der Bankiersfamilie Oppenheim erfahren hat, in deren Besitz sich Colonia - noch - befindet.

Der Kaufpreis für Colonia beträgt 15 Milliarden Franc. An sich kein Problem - nur wer zahlt? Victoire (an der Vernes‘ SCI direkt nur 2,5 Prozent hält) oder der eigentliche Machthaber, die Compagnie Industrielle (von der die SCI 25 Prozent besitzt)? Vernes entscheidet: Victoire zahlt. Ein kluger Schachzug, denn so wird Suez mit ihren vielen Prozenten bei Victoire tief in die Tasche greifen müssen, während die SCI mit einer Milliarde Franc glimpflich davonkommt - ohne darum einen Deut an Entscheidungsbefugnis bei Victoire einzubüßen. Denn natürlich bleibt Vernes weiterhin Chef im Hause.

La Geniere platzt der Kragen: „Wir sind keine Hampelmänner. Wenn wir zahlen, wollen wir auch unseren Anteil an der Macht“, rief er, zumal es um die Macht bei dem mittlerweile fünftgrößten Versicherer auf dem zukünftigen europäischen Binnenmarkt geht - eine strategische Position, sobald die EG -Kommission die nationalen Dienstleistungsmärkte vollständig freigibt. Zumal zu den Anteilseignern bei Suez auch Frankreichs größter Versicherer zählt, die staatseigene UAP (Chef: der ehemalige Suez-Boß Jean Peyrelevade). Mit Victoire im Portefeuille würde aus der Suez-Holding eine unschlagbare Force de Frappe im Binnenmarkt werden: einer Bank mit gut entwickeltem internationalen Schalternetz und einer der großen europäischen Versicherungsgruppen. Kaum zwei andere Sektoren bringen, einmal zur Allfinanz kombiniert, derart profitable „Synergie-Effekte“ wie Banken und Versicherungen. Der Angriff

Dritter Akt. Suez greift angesichts dieser Aussichten kurz entschlossen zum letzten Mittel und gibt am 8.August das größte Übernahmeangebot der französischen Finanzgeschichte bekannt: La Geniere läßt für jede Aktie der Compagnie Industrielle 13.000 Franc. Ein verlockendes Angebot, wo doch die letzte Notierung bei 9.750 Franc lag. Suez hofft, beim Publikum genügend Anteile der 25 Prozent aufkaufen zu können, die auf dem Markt verteilt sind, und darüber hinaus einen Teil der 16 Prozent, die die „Centenaire Blanzy“ hält, ein Unternehmen, das selbst in zu hohem Maße von Suez abhängig ist, um sich widerspenstig zu zeigen. Falls, so das Kalkül von La Geniere, er die Mehrheit der Compagnie Industrielle erwirbt, wird Suez alle Victoire-Aktien am Markt aufkaufen - insgesamt eine Operation von rechnerisch 23 Milliarden Franc. Es ist eine Menge Geld zu verdienen im europäischen Versicherungsgeschäft.

Nachdem die Pariser Börsenaufsicht eine Woche lang beraten hat, bevor sie ihr d'accord gab für ein Übernahmeangebot, das kaum jemand ablehnen kann, wurden am Dienstag die Kurse der Compagnie wieder freigegeben. Kurz nach Börsenbeginn sprangen die Notierungen bereits auf 20.000 Francs - und der Handel wurde auf weitere fünf Tage ausgesetzt. Die Verteidigung

Inzwischen arbeitete Vernes an seiner Verteidigungsstrategie. Bisher kam ihm nur der - nicht sehr überzeugende - Hinweis in den Sinn, die Familie Oppenheim, ihre Colonia nur an ihn, Vernes, nicht aber an Suez zu verkaufen - in deren Aufsichtsrat säßen zuviele Staatsbeamte. Doch der Deal ist längst unter Dach und Fach, wenn das Bundeskartellamt nicht noch Einspruch erhebt.

Vernes bleiben nur zwei Möglichkeiten: eine kostspielige und noble und eine preiswerte, aber anrüchige. Entweder Vernes pokert mit und spricht ein Gegen-Übernahmeangebot aus. Ein kostspieliges Verfahren, wenn man wie Vernes keinen mächtigen Geldgeber im Rücken hat. Anfangs hatte er noch auf Frankreichs größte Geschäftsbank Paribas gesetzt, doch die winkte ab, wird sie doch maßgeblich vom Versicherungsriesen UAP kontrolliert. Und Dassault? Dessen Rüstungsfirma Navigation Mixte wird von Insidern bereits selbst als Übernahmeopfer gehandelt. Dassault soll sich schon nach Verteidigern umgeschaut haben. Bleibt nur Vernes‘ getreuer Freund Raul Gardini. Der wartet nur auf ein Zeichen, um mitzubieten. Doch er ist Italiener. Und daß ein Ausländer, und sei er Europäer, die Hauptrolle bei diesem Boulevardstück spielt, ist undenkbar im Lande Frankreich.

Oder - zweite Möglichkeit - Vernes sucht sich zwanzig alte Freunde, die je 0,49 Prozent der Compagnie-Aktien aufkaufen. Damit liegen sie unter der Schwelle, für die Frankreichs Börsenrecht Publizität vorschreibt, und tragen die knapp zehn Prozent der Compagnie-Aktien zusammen, die dem Vernes -Clan zur Mehrheit noch fehlen. Das Finale

Es wird heiß her gehen im Palais Brongniart. Am Donnerstag mußte die Notierung wieder ausgesetzt werden - 490.000 Aktien wurden nachgefragt, wo normalerweise täglich insgesamt 250.000 Titel getauscht werden. Wer also bei dem Pariser Boulevardstück dabei sein möchte, muß sich beeilen: Karten gibt es wieder am Montag, Börsenbeginn neun Uhr, im Palais Brongniart - Stückpreis um die 20.000 Franc.Siehe auch

Folgen 10 und 11 der EG-Serie