Chinas Kultur lebt wieder nach Vorschrift

Rockstar hält sich an Regierungstext / Kunst und Literatur stehen auf dem Index / „Eiszeit„-Eindrücke vom kulturellen Leben in der Hauptstadt / Gehuldigt wird den Heroen der Volksbefreiungsarmee / Ausländische Kulturarbeiter sind nach wie vor willkommen  ■  Von Volker Lippholz

Plötzlich und völlig unerwartet wurde vor einer Woche im Pekinger Fernsehen ein Interview mit dem bekannten Pop -Sänger Hou De-Jian ausgestrahlt. Hou war in den letzten Tagen vor dem Massaker eine der führenden Persönlichkeiten bei der Besetzung des Tiananmenplatzes gewesen und galt seither als verschollen. Jetzt meldete er sich zurück, gab an, er habe sich 70 Tage in der australischen Botschaft versteckt gehalten. Und: „Nein“, meint er, er habe keine Toten auf dem Platz gesehen; in der Nacht vom 3. auf den 4.Juni hätten die Soldaten auf die Lampen und in die Luft geschossen, nicht auf Menschen... Hat man ihm für eine Aussage im Sinne der Regime-Propaganda Straffreiheit zugebilligt?

Anders Cui Jian, Chinas enfant terrible der Rockmusik, der schon früher große Schwierigkeiten hatte, seine Musik öffentlich darzubieten. Nachdem er auf dem Platz des Himmlischen Friedens ziemlich rüde Sprüche gegen die Regierung losgelassen hat, muß er sich auf eine ausgedehnte Kunstpause einstellen. Verhaftet allerdings wurde er nicht.

Zeitweilig war das Gerücht im Umlauf, Chinas neue kulturpolitische Ausrichtung würde der Rockmusik den Garaus machen.

Aber nach wie vor dröhnen Rock-Rhythmen aus Studentenzimmern und Musikgeschäften, und auch Pekings Jazzband Nummer eins, die chinesisch-amerikanisch-deutsche Gruppe The Swinging Mandarins mit ihrem spiritus rector Martin Fleischer, dem zweiten Sekretär der bundesdeutschen Botschaft, tritt zur großen Freude ihrer in- und ausländischen Fans wieder allfreitagabendlich im Jianguo -Hotel auf.

Merkwürdige „Liberalisierung“ im kulturell frostigen Peking: Einheimische haben zu solchen Veranstaltungen und auch zu Discotheken in den Joint-Venture-Hotels jetzt erstmals Zutritt, die Manager nutzen alle Möglichkeiten, dem Pleite-Geier zu entkommen, der durch die ausbleibenden Touristen droht.

Mehrmals schon wurde in den letzten Wochen in der 'Volkszeitung‘ gegen die künstlerischen Experimente des vergangenen Jahres gewettert. Dabei fielen Begriffe wie „unchinesisch“ oder „entartet“. Schlechte Zeiten auch für die Aktionskünstler um Wang-De-Ren, deren Ausstellung China Avantgarde im Februar in der Pekinger Kunsthalle für viel Aufsehen gesorgt hatte. „Wer von uns Eltern und Verwandte auf dem Land hat, der hat jetzt Peking verlassen“, berichtet der Künstler. Mehrfach gab es Verhöre durch die Sicherheitspolizei. Die Studenten der Kunstakademie, die sich am Bau der „Göttin der Demokratie“ beteiligt haben, seien verhaftet worden, heißt es. Auf dem Gebiet der Literatur hat ein breiter Feldzug gegen sogenannte „pornographische“ und „bourgeois-liberale“ Schriften begonnen. Bücher wurden öffentlich verbrannt.

In westlichen diplomatischen Kreisen gilt es als sicher, daß der Kulturminister, der Schriftsteller Wang Meng, sowie seine beiden Stellvertreter - darunter der Schauspieler und Regisseur Yin Ruo-Cheng, der in Bertoluccis „letztem Kaiser“ den Gefängnischef dargestellt hat - abgesetzt wurden. Offiziell ist dies jedoch bislang nicht bestätigt. Für Wang Meng wäre dies nach 1958 und 1969 der dritte Sturz in seinem Leben. Im Kino läuft - neben weiteren Militär -verherrlichenden Schinken - vor allem ein Film, der Deng Xiao-Pings Heldentaten beim Baisi-Aufstand gegen Tschiang Kai-Shek glorifiziert. Und in zwei Ausstellung wird meist in Gruppen anreisenden VolksgenossInnen die offizielle „Wahrheit“ über den „konterrevolutionären Putsch“ serviert.

Die Pekinger Kunsthalle zeigt - gleich neben einer großen Kalligraphie-Ausstellung - eine Fotoschau zu den Ereignissen. Dabei gibt es kaum Fälschungen; nur eine Montage ist deutlich als solche zu erkennen: Aber Bilder, die schießende oder tötende Soldaten zeigen, fehlen. Die Aura der „friedliebenden Volksbefreiungsarmee“, die urplötzlich von einigen Rowdies angegriffen worden sei, wird auch in der Ausstellung im Militärmuseum aufrechterhalten: erinnern sollen zerstörte Verkehrszeichen, kaputte Stahlhelme, blutdurchtränkte Hemden. Die Besucher scheinen sich jedoch am meisten für die dort auch ausgestellten Flugblätter und Wandzeitungen der autonomen Studenten- und Arbeiterverbände zu interessieren.

Die Universitäten haben die Zahl der Neuimmatrikulierten drastisch reduziert, an der Peking Universität sind es 800, an der Pädagogischen Universität 500, selbst an der naturwissenschaftlich-technischen Qinghua Universität 400 Studenten weniger. Neueinschreibungen für Philosophie, Soziologie, Politik und Psychologie gibt es nicht. Zurückgewiesen wurde auch eine Dozentengruppe der amerikanischen Fulbright-Stiftung, die sich schon auf Hawaii für einen Lehraufenthalt an Hochschulen in China vorbereitete hatte.

Das British Council und auch die Franzosen schicken wieder Sprachlehrer, ebenso der Deutsche Akademische Austauschdienst - ausgenommen Kurzzeitdozenten -, und den Studenten wird abgeraten, jetzt einen Studienaufenthalt in der VR China anzutreten. Wer dennoch geht, bekommt gleichwohl sein Stipendium. Vermutlich werden etwa 60 Prozent weniger deutsche StudentInnen im kommenden Studienjahr an chinesischen Hochschulen studieren.

Kaum 60 Personen nehmen in diesem Sommer an Chinesisch -Kursen teil. „Noch ein solches Jahr - und wir sind bankrott“, wird unter der Hand verlautbart.

Fragt man chinesische Wissenschaftler und Studenten, ob weiterhin ausländische Dozenten, Lehrer, Wissenschaftler, Studenten und Künstler nach China kommen sollen, lautet die Antwort einheillig: „Natürlich, bitte, kommt!“