Aus dem Rollstuhl aufgestanden

■ 4.000 Behinderte betreiben im Behinderten-Sportverband Berlin „in Variationen jegliche Sportart“ / Seit fünf Jahren Integrationsbemühungen / Noch sind die meisten nicht-behinderten Mitglieder Angehörige / Verband braucht Spenden für Neubau

Zur „Integrationsfete“ lud der Behinderten-Sportverband Berlin e.V. Behinderte und Nicht-Behinderte ins verbandseigene Freizeitheim direkt am Stößensee ein. Anzusehen war eine Behinderung jedoch kaum jemandem der zahlreichen Gäste, die sich zwischen den Imbiß- und Spieleständen zur Musik einer britischen Kapelle auf dem Ufergelände bewegten. Das gestenreiche Gespräch entpuppte sich erst bei genauem Hinsehen als Unterhaltung zweier Taubstummer. Grund dafür sei, so Vorsitzender Wolfgang Thorbeck (65), das Spektrum der rund 60 Schadensklassen im Verband von Asthmakranken bis zur Krebsnachsorge brustamputierter Frauen, von Spastikern bis zu den Kriegsversehrten.

Letztere gaben ursprünglich dem Verband den Namen Versehrten-Sportverband - bis zur Umbenennung vor zwei Jahren. Entstanden war der Behinderten-Sportverband 1952 aus dem Bedürfnis der Kriegsversehrten, mit Sport wieder Freude am Leben zu finden, wozu in den einzelnen Bezirken zunächst Gruppen, dann Vereine gegründet wurden. Nach und nach kamen auch die anderen der heute 33 Vereine - mit ihren je nach vertretender Behinderungsart individuellen Sportarten hinzu. Einer dieser Vereine ist die Versehrten -Wassersportgemeinschaft (VWG), deren Mitglieder sich um das Bootshaus auf dem Gelände ebenso wie um die elf Segelboote und zwölf Kanus kümmern, die auch den anderen Vereinen gegen eine geringe Gebühr zur Verfügung stehen. Einer derjenigen, der im Winter die Theorie für den im VWG zu erwerbenden Segelschein unterrichtet, ist der Computertechniker Horst B. (53). Horst B., der so ziemlich alle Segellizenzen - auch für Küstengewässer und weite Turns nach England und Korsika

-besitzt, ist seit vielen Jahren querschnittsgelähmt. Zwar wird sich sein Traum, auf einem großen Schulsegelschiff in die Rahen zu steigen, nie erfüllen, doch findet er „seelische Erholung“, wenn er im Sommer als „Skipper“ Charterschiffe sicher durch das Mittelmeer bringt. Bei seinen Wochenendfahrten auf der Havel brauche er „nur Hilfe beim Ab- und Anlegen“. Selbständig betreiben auch die Jüngeren den Wassersport: Tobias (12), einer der rund 400 Jugendlichen im Behinderten-Sportverband, ist seit zwei Jahren im VWG. Durch das Kanufahren konnte der asthmakranke Junge nicht nur seinen Atem-, sondern auch seinen Sprayrhythmus - AsthmatikerInnen müssen bei Atemnot einen Spray für die Atemwege benützen - von 15Minuten auf drei Stunden verbessern.

Unermüdlicher Elan, der oftmals „sogar gebremst werden muß, weil man es sich selbst, nicht den anderen zeigen will“, sei keine Seltenheit, erzählt Manfred Guski, Kanu- und Surfwart des VWG, der selbst einen Wirbelsäulenschaden hat und einer der wenigen ist, „die aus dem Rollstuhl wieder aufgestanden sind“.

Vor kurzem erst kam ein 28jähriger, der nach einem Motorradunfall beide Beine und einen Teil des Arms verloren habe und fährt bereits seit einer Woche unermüdlich Kanu. Auch „CC“ (25) - liebevoll Chaoten-Christian genannt probierte vor fünf Jahren mit einem der fünf Schulungssurfbretter sein Glück. Christian, der Spastiker ist und als 50 Prozent behindert eingestuft ist, hört auch bei Windstärke5 nicht auf, sondern surft auch noch mit 50 Stundenkilometern bei Windstärke7.

Auch beim Wassersport werden je nach Behinderung viele Sportarten abgeändert. Für die Kinder des Conterganskandals, die mittlerweile Anfang Zwanzig sind, werden beim Surfen zunächst Sitztrapeze installiert, die dann nach einiger Zeit weggelassen werden können. Für geistig Behinderte, die zum großen Teil in der „Lebenshilfe e.V.“ organisiert sind, ist das Stehen auf einem Surfbrett kaum möglich, da sie Schwierigkeiten beim Balancieren haben. Sabine Casjens (28), Sportlehrerin bei der „Lebenshilfe“, berichtet von anderen Möglichkeiten, als geistig BehinderteR mit dem Surfbrett umzugehen, wie zum Beispiel damit schwimmen, es ziehen oder darauf liegen, während einE andereR damit surft. „Behinderte können mit Variationen jede Sportart ausüben“, so Sabine Casjens. Bei Ballspielen werde ein „Zeitlupenball“ verwendet, der größer ist und eine Minute Wurfzeit hat. Die Lebenshilfe ist erst seit zwei Jahren Mitglied des Gesamtverbands.

„Echte Integration“ gäbe es selten, da die meisten nichtbehinderten Mitglieder Angehörige seien. Das will der Behinderten-Sportverband seit zirka fünf Jahren ändern. Die neuen Statuten erlauben seitdem auch Nicht-Behinderten die Mitgliedschaft. Das alte, baufällige Vereinsheim soll einem neuen, mehr behindertengerechten Neubau weichen. Der Neubau soll auch verstärkt für Begegnungen mit Nicht-Behinderten genutzt werden.

Bis dahin allerdings muß der Behinderten-Sportverband noch rund eine Million an Spenden zusammenbekommen. (Behinderten -Sportverband Tel. 261 13 28)

Karin Figge