Das Radio spricht

■ „France-Culture“ - 100 Worte pro Minute, und das rund um die Uhr

Michael Biermann

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Die Fingermuskeln, die das Rädchen drehen, verharren zitternd (meine, die die letzten zeilen gesäzzt haben, auch! d.s-in). Der rote Strich bleibt auf 98,2 Ultrakurzwelle - frequence module auf Französisch stehen. Das Ohr des Lauschers, zu einem Klümpchen eingefaltet, öffnet sich langsam, vorsichtig, wie eine Rose, wie ein Schmetterling. Das Trommelfell erzittert vor Wohlbehagen. Hammer, Amboß und Steigbügel stampfen wie das Gestänge einer Dampflok am Berg. Die Schnecke füllt sich mit blauer Elektrizität. Und endlich schwingt sich auch das Großhirn des geschätzten Hörers auf in ungeahnte, herbeigesehnte Höhen. Denn er hat France-Culture gefunden, fast auf den ersten Griff.

Nicht, daß er schwer zu finden wäre, dieser Sender. Wie gesagt, 98,2 MHz. In ganz Frankreich zu empfangen. In Rumengol mit Blick auf den Antlantik, in der öden Ebene von Montbard, Im Wald von Egletons, auf dem Fischmarkt von Beziers, unter dem Felsen von Castellane, der neulich abgebrochen ist, im 13.Arrondissement in Paris, wo ich diesen erinnerungswürdigen Ausflug mit Nancy machte, in Nancy, wohin ich diesen wunderbaren Ausflug mit der Marianne tat, und in Amrignane, wo der Lärm der aufsteigenden Flugzeuge die Heraufsetzung der Lautstärke unabdingbar notwendig macht. Kurz, France Culture ist ein Sender von nationaler Reichweite. Nicht wie Radio Gazelle, das nur bis in die nördlichen Vororte von Marseille reicht, von der Porte d'Aix ausstrahlend. Darum war es auch auf den Wellen von Radio Gazelle, wo Fred und ich eine Stunde lang über Berlin reden durften. Leila, die die Sendung Frauen hier, Frauen woanders moderierte, lag mit Angina im Bett, und so sprangen wir als aktuelles Thema der letzten Minute in die Bresche. Auf die Frage von Abdelkader, wie viele türkische Kinder in Berlin im Jahresdurchschnitt sitzenbleiben, wußten aber weder Fred noch ich eine Antwort.

Ich schweife ab, genußvoll, am liebsten würde ich natürlich auf France-Culture mein Leben erzählen - „Männer mal da, mal dort“ -, aber ich bin schon dankbar, wenn ich den Sender störungsfrei empfange. Habe ich nicht vorher gesagt, man höre ihn überall, vom Weinland von Thain-Hermitage bis zu den Blumenkohlfeldern von Bourbriac? Von der Zementfabrik in Carpentras bis zur Bohrinsel vor der Ile d'Yen? Nur bei mir ist der Empfang schlecht, dabei wohne ich im fünften Stock in einem ruhigen Viertel in Marseille. Und bei meiner Nachbarin, einen Stock tiefer. Sie hört France-Culture nur dann, wenn sie die Antenne einzieht und ihr Radio schräg auf ein Buch und in einem Winkel von 45 Grad zum Fenster aufstellt. Ich selbst habe einen CB-Spezialisten im Hintergrund. Er funkt mir auch auf allen Sendern ins Spiel, aber dort ist die Musik meist so laut, daß ich ihn nicht mehr wahrnehme. Nur die zarten Geister von France-Culture vermag er mit seinem Gewäsch zu durchdringen. Glücklicherweise sagt er abends um acht allen seinen Funkkollegen gute Nacht („ich grüße Marcel, den Manni, alle Kanarientitis und die Wauwis und Muschis, bis morgen, Ende.“) und geht mit seinem Hund spazieren, ein billiger Vorwand, in der nächsten Kneipe einen zu heben. Und ab dann hat der Sender mich für sich alleine.

Worum es eigentlich geht? Von seinen Freunden zärtlich France-Cul genannt, von seinen Feinden am liebsten auf der Stelle eingemeindet, ist die Rede von kulturellsten aller Radiohäuser Europas, von der totalen geistigen Durchdringung eines Radiosenders und einem Individuum - besser seinen Individuen, so wie man die entlehrten Gesellen im Gefolge des Prinzen Dracula wohl „seine Individuen“ heißen mag.

Mitternacht ist seit zwanzig Minuten vorüber. Der rote Strich steht über dem Q, welches ich auf das Gehäuse des Radios gemalt habe, um es mit einem Handgriff einstellen zu können. Aber meistens brauche ich nur einzuschalten, um zu denen zu stoßen, die zur selben Zeit die Ohren weit aufgerissen in ihren Zimmer sitzen, den Blick im Leeren. Dem französischkundigen Leser wird aufgefallen sein, daß man in Frankreich culture nicht mit Q schreibt. Als ich mein Gerät solchermaßen zeichnete, war meine Kenntnis der Sprache noch so rudimentär, daß mir ein solcher Schnitzer unterlief. Und trotzdem fühlte ich schon damals, daß an dieser Stelle eine Quelle sprudelte, nach der es mich dürstete, sogar als sie mir noch durch die hohle Hand lief.

“...tout physicien averti, tout astronome conscient aura evidement une response a apporter. En electricite, l'utilisation de la transformation de Fourier est une banalite. Les critallographes s'en sevent pour atteindre les dimensions cristallines, les opticiens pour detecter les defauts des optiques, les astronomes en deduisent les dimensions critiques de la granulation ou de la supergranulation solaire, et les acousticiens analysent les sons les plus etrangeres, comme les linguistes etudient, grace aux transformations de Fourier, la formation par la bouche des paroles les plus diverses, jusqu'aux rrr qui roulent, aux accents d'Alsace ou de Bordeaux...„

Und ich lieh mein Ohr Stimmen, von denen ich nicht ein Drittel verstand, oft genug unterlegt mit einem Geräuschteppich, der mir den Boden unter den Füßen wegzog.

Selbst für jemanden, der der Sprache gar nicht mächtig ist, ist es möglich, France-Culture ausfindig zu machen: Wenn jemand redet und nach fünf Minuten noch nicht von Musik unterbrochen wird, wenn Leute diskutieren, als kennten sie sich schon seit Jahrzehnten, wenn jemand in Dialekten und Mundarten spricht, untermalt von den Geräuschen und der Musik seiner Landschaft, kurz: wenn gesprochen wird, Sprache und nochmals Sprache aus den Rillen quillt - das ist dann France-Cul. Anfangs suchst du nach einiger Zeit gottergeben einen anderen Sender, dessen musikalisches Programm es dir erlaubt, ruhig weiter das Buch zu lesen, was dich so fesselt. Später verstehst du immer mehr. Und es kommt der Tag, wo du das Buch aus der Hand legst und das unglaubliche Ohr ganz dem Radio zuwendest, den Ton aufdrehst und zum Beispiel hörst: “...es gibt Hinweise darauf, daß viele dieser Übersetzer die vielfältigen Dimensionen und die alternativen Lesarten der klassischen Literatur überhaupt nicht bemerken. Wir können Hunderte von Beispielen anführen. Schlagen wir den „Rosengarten“ von Saadi auf und betrachten einen Ausschnitt. Hier ist ein Zitat, das auf persisch lautet: Kasini Ki Yazdanparasti kunand, biawazi dulab masti kunand. Eine englische Übersetzung gibt die Bedeutung wörtlich wieder: Those who are godworshippers become drunken at the sound of water-weel. Also: Diejenigen, die Gott verehren, werden trunken vom Geräusch eines Wasserrades. Nun bedeutet das persische Wort dulab, Wasserrad, im übertragenen Sinn auch „Täuschung“. Statt der verkürzten Übersetzung „Alles kann einen religiösen Menschen in Extase versetzen“ ergibt sich also eine ganze Reihe von möglichen Bedeutungen, wenn wir die Wörter und ihre zusätzlichen Bedeutungen betrachten. Die bloße Tatsache, daß man ein kostbares Buch zur Hand hat, bedeutet also nicht unbedingt, daß man in der rechten Weise darin lesen kann...„

Das Radio spricht. Fast hatte man das vergessen. Also saßen unsere Großeltern wirklich stillschweigend andächtig vor dem Empfänger und lauschten, die ganze Familie um den Tisch versammelt? Seitdem sind viele Wellen den Schwarzbach hinuntergeflossen, und das Radio hört man noch in den Autos, die kein Kassettenteil eingebaut haben. Unwirsch über den schlechten Empfang der grauenvollen Musik schaltet man dann aus und summt sich eins, während die Augen fragend die Dunkelheit über der Autobahn durchforschen. Und schwört sich, bei der nächsten Reise Batterien für den Recorder zu kaufen.

Ich weiß von Reisen, die verschoben wurden, weil die letzte Folge von den Nuit magnetiques, den „magnetischen Nächten“, diese Woche mit dem Thema „Brücken“, noch gehört werden mußte, in Ruhe zu Hause, ohne ein Wort zu verlieren. Denn das Schlimmste, was einem France-Cul-Anhänger im zweiten Stadium passieren kann, ist ebendies: ein Wort zu verlieren. “...der kreative Prozeß erhält einen völlig anderen Aspekt, wenn der Betrachter sich einem Phänomen der Transmutation gegenübersieht; durch den Wechsel der unbelebten Materie zum Kunstwerk geschieht eine wahrhaftige Transsubstantiation, und die neue, wichtige Rolle des Betrachters besteht darin, das Gewicht des Werkes auf der ästhetischen Waage auszumachen...„

Heute bin ich - ich sage es mit Stolz - Hörer im dritten Stadium. Es passiert mir, daß ich das Radio ausmache und gehe. So viele Worte, und selbst wenn man eines verpaßt, findet man es später, zu anderer Zeit wieder. Dieser Sender präsentiert Kultur als ein Ganzes, ununterbrochen, ein Fluß. Bei soviel Wasser wird man weise, niemand kann das alles austrinken. Wirf die Angel des Ohres aus, und du wirst immer einen Fisch an Land ziehen und nie einen alten Stiefel. Das Stadium der Panik, etwas zu verpassen, ebbt langsam ab. Oder verliert etwa jemand den Kopf vor Angst, daß morgen aus dem Wasserhahn kein Tropfen mehr käme?

Dabei hat France-Culture in seiner Geschichte böse Durststrecken überwinden müssen. Aber wäre der Sender auch am Ausstrahlen gehindert: man hat den Eindruck, daß die Worte genauso weitergesprochen würden. Denn man ist nicht eigentlich Hörer, sondern vielmehr stummer Teilnehmer an einem ununterbrochenen Monolog. Nie eine Sendung, bei der man anrufen kann, denn diese Kultur bedarf keiner Verdünnung. France-Culture traut sich zu, alles Wichtige auch ohne die vielleicht übereifrige Beihilfe seiner Hörer anzusprechen, und welcher kleinliche Geist würde diese Arroganz übelnehmen können? Während Jean-Claude Perez bedächtig von künstlicher Intelligenz erzählt, wäre es in der Tat störend, wenn ein Monsieur Dupont dazwischenreden könnte: „Mein Sohn ist vier Jahre alt und kann bereits drei Fremdsprachen, ist solch eine Erziehung nicht sinnvoller, als das Geld der Steuerzahler in die Erforschung von...“ Und zu intelligenten Fragen hat man keine Zeit, will man mehr als die Hälfte von dem verstehen, was Perez über Neutronenflüsse und Fractalbäume sinniert. Kann man denn eine Sprache reden, die alle verstehen und die alle interessiert? Und was ist mit der Populärkultur? Ist das schon ein Gegensatz an sich? Interessante Frage, denkt womöglich die schweigende Minderheit der ungefähr zwei Prozent der französischen Bevölkerung, die regelmäßig France -Culture hört, und wartet geduldig, bis sich der Sender in abendfüllenden Diskussionen mit dem Problem beschäftigt.

Wie wenig wichtig ist mir das. Ich denke zurück an die schönen Stunden, die ich vor dem Radio zugebracht habe. Ich war kaum in meine Wohnung in Marseille eingezogen und hatte weder Tisch noch Kühlschrank. Wie laut hallte das Radio im leeren Raum! Auf zwei Stühlen sitzend, haben Fran?ois, der zum Helfen gekommen war, und meine Wertigkeit die Ursonate von Schwitters integral erlauschen dürfen, statt Kisten auszupacken. Viele haben von ihr gehört, wenige haben sie je vernommen. Merci, France-Cul.

Magnetische Nächte, Thema Marseille. Um zwei Uhr nachts, während mir langsam die Augenlider sinken, höre ich noch in meinen Halbschlaf hinein, wie ein Einwohner der Stadt, die ich so gern verstehen möchte, eine Anekdote erzählt: „Eines Tages werden Vater und Sohn beim Fischen auf hoher See vom Sturm überrascht. Die Wellen gehen turmhoch, und die Barke droht jeden Augenblick zu kentern. Der Vater beginnt inbrünstig, die Mutter Gottes anzuflehen. 'Wenn wir heil und gesund den Hafen erreichen, stifte ich in der Kirche der guten Mutter, die unsere Stadt schirmt, eine große Kerze.‘ Der Sturm nimmt an Heftigkeit noch zu, und das Boot läuft bis zum Rand voll Wasser. 'Ich will wohl die größte Kerze stiften, die ich kaufen kann‘, ruft der Vater. Vergebens, die Brecher drohen über dem Kahn zusammenzuschlagen. 'Eine Kerze so dick wie mein Oberschenkel! Nein, zwei, wenn...‘ 'Vater‘, ruft der Sohn, 'eine so dicke Kerze gibt es doch gar nicht!‘ 'Sei doch still, ich werd‘ es wohl schaffen, sie reinzulegen!‘ 'Que je suis en train de la posseder!‘ Freundlich erklärt der Schelm, daß posseder, „besitzen“, wohl bedeuten kann „Geld besitzen“, „eine Frau besitzen“, „vom Teufel besessen zu sein“, „von Geistern gequält zu werden“, aber im Marseiller Dialekt zu „zum Narren halten“ wird. Da übermannt mich der Schlaf, und ich träume, daß ich Maria meine Kerze zeige, auf hoher See an Bord einer Segeljacht. Merci, France-Cul!

Ein andermal, ach was: Wie oft habe ich inspirationslos, leer und ausgehöhlt von den Ausschweifungen vor dem Papier gesessen, Bleistift oder Kreide drohend darüber gezückt. Und dann, nach dem ersten zagenden Strich, mich fragend „warum“, warum diese Last auf den Schultern, warum noch Künstler in dürftiger Zeit, das Hebelchen herumgeworfen und einen Malerkollegen mit tiefer Stimme über Last, Sorgen, aber auch Freude reden hören, die sein Werk mit sich gebracht hat.

“...habe damals auf zehn Meter Wand rund dreißig Bilder aufgehängt, so daß ein großes Viereck entstand. Davor standen ein Eierbecher, aus einem alten Telegraphenmast geschnitzt, und ein Raumschiff aus einer alten Regentonne und einem Autoreifenschlauch. Es ähnelte einem russischen Forschungssatelliten. Der geschweißte Fuß war zu schwach, und ich mußte es mit Stricken an der Wand verankern. Im Innern der Tonne befand sich ein Kassettenspieler, den ich selbst besungen hatte. „Es schmeckt der Landwein, in jedem Land fein“, über dreihundert Mal...„

Wo nehmen sie nur all diese Leute her, die etwas zu erzählen haben? Vielleicht, wenn ein Land seinen Künstlern eine Stimme gibt, lernen diese - erst hörend, dann redend über das zu sprechen, was sie machen und was sie antreibt. Die sollten mich mal reden lassen, denke ich, und ich stelle fest, daß ich überhaupt nicht wüßte, was ich an ihrer statt erzählen sollte. Zornig beginne ich darüber nachzusinnen, in Windeseile wächst das Gerüst meiner künstlerischen Philosophie in den Himmel, schon zu weit, um es noch in Worte fassen zu können. Und schon fliegt der Stift über das Papier, schraffiert die Hinterbacke, rundet eine Brust, hin zu neuen Meisterwerken. Der andere im Radio redet noch, aber ich höre nicht mehr hin, ganz dem Wirken eigener Regung hingegeben. Merci, France-Culture.

Worte, Worte, Worte. In einer Minute kann man ohne weiteres hundert Wörter aussprechen. Das macht rund eineinhalb Wort pro Sekunde, was einem eher langsamen Redner entspricht. Macht 6.000 Wörter in der Stunde. Ziehen wir rund vier Stunden Musik und Stille pro Tag ab, sendet France-Culture etwa 120.000 Wörter täglich, was mir eine angemessene Schätzung scheint. Im Monat also 3.600.000, im Jahr 23 Millionen. Erst seit ich eben für meinen taz-Artikel diese Milchmädchenrechnung aufgestellt habe, fange ich an zu begreifen, was für ein phantastisches Werkzeug der französischen Kultur in den Mund gelegt worden ist.

In letzter Zeit hat sich zu dem Q auf meiner Senderskala ein FIM gesellt: France-Inter-Marseille. Den ganzen Tag Musik, vom leichtesten. Sonst komme ich wirklich zu nichts mehr. Um diesen Artikel zu schreiben, habe ich es mir zum Beispiel versagt, auch nur eine einzige Minute France -Culture zu hören. (ach, das wäre wirklich nicht nötig gewesen... d.s-in)