ZK rüffelt Balten

■ Die KPdSU warnt schroff vor „nationalistischen Führern“ und den „katastrophalen Folgen“ ihrer Politik / Baltische Aktivisten zeigen sich unbeeindruckt

Moskau (dpa/afp/ap) - Das Zentralkomitee der KPdSU hat am Samstag abend in bisher ungewohnter Schärfe die Unabhängigkeitsbestrebungen der Volksfrontbewegungen in den baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen kritisiert.

Im sowjetische Fernsehen wurde eine zwanzigminütige Erklärung des Gremiums verlesen, in der die baltischen Völker vor den Konsequenzen ihrer nationalistischen Bestrebungen gewarnt werden. „Die Menschen müssen wissen, in welchen Abgrund ihre nationalistischen Führer sie stoßen. Wenn es denen gelingt, ihre Ziele zu erreichen, könnten die Folgen für die Völker katastrophal sein. Ihre Lebensfähigkeit selbst könnte in Frage gestellt sein.“ Baltische Aktivisten deuteten an, trotzdem ihren Kurs beibehalten zu wollen.

In der letzten Woche hatte eine Million DemonstrantInnen mit einer Menschenkette der Annexion ihrer Staaten durch die Sowjetunion als Folge des Hitler-Stalin-Paktes gedacht. Die sowjetischen Medien berichteten darüber, ohne jedoch die antisowjetischen und separatistischen Forderungen zu erwähnen. Am Freitag hieß es dagegen in der 'Prawda‘, die baltischen Volksfrontbewegungen, die als erste zu den Befürwortern der Perestroika gehört hätten, würden nun im Namen der Umgestaltung nur noch ihre eigenen nationalistischen Interessen verfolgen. Im Zusammenhang mit der Verschärfung des Nationalitätenkonflikts hatte sich Gorbatschow Anfang Juli schon einmal überraschend mit einem dramatischen Fernsehappell an die Sowjetbevölkerung gewandt. Die Lösung der Nationalitätenfrage erklärte er damals zum entscheidenden Moment, von dessen Erfolg auch das Schicksal des gesamten Umgestaltungsprozesses abhinge.

Die ZK-Erklärung muß deshalb auch als eine Warnung an die anderen Sowjetrepubliken verstanden werden, separatistischen Forderungen Einhalt zu gebieten. „Die besorgniserregende Entwicklung in den baltischen Republiken“, so das ZK, „berühre die prinzipiellen Interessen des ganzen sowjetischen Volkes und unseres ganzen sowjetischen Vaterlandes“.

Zur Zeit streiken auch in der Sowjetrepublik Moldawien russischsprachige Arbeiter. Der Oberste Sowjet Moldawiens will am Dienstag ein Sprachengesetz verabschieden, wonach Rumänisch Umgangs- und Staatssprache werden soll.

Ausdrücklich richtete sich die ZK-Kritik auch gegen die Regierungen und lokalen kommunistischen Parteivertretungen der Region. Sie hätten nicht alles getan, um das Abgleiten in den Separatismus aufzuhalten. Manche hätten solche Tendenzen sogar unterstützt und den Widerstand dagegen geschwächt.

Die Erklärung spielte auch auf die undemokratischen Regimes der unabhängigen baltischen Republiken zwischen beiden Weltkriegen an. An einigen Orten hätten sich Gruppierungen gebildet, die an die der bourgeoisen Periode und der Zeit unter der Nazi-Besatzung erinnerten. „Einschüchterung, Desinformation, Betrug, Diffamierung und moralischer Terror gegen diejenigen, die dem Internationalismus und der Idee einer einigen Sowjetunion treu bleiben“, gehörten mittlerweile zur Tagesordnung.

Der Solidarnosc-Vorsitzende Lech Walesa soll für Oktober seinen Besuch bei der litauischen Volksfront, Sajudis, angekündigt haben. Nach Angaben eines Vorstandsmitglieds will er bei dem Versuch helfen, die polnische Minderheit, rund 35.0000 Polen, in Litauen für die Interessen der Volksfront zu gewinnen. Bis zum Zweiten Weltkrieg gehörte Litauens Hauptstadt Wilna zu Polen. Bisher fühlten sich die dort lebenden Polen mit der russischen Minderheit solidarisch, mit der sie gemeinsam eine Organisation zum Schutz ihrer Rechte gegründet haben. Den Litauern wirft die polnische Minderheit extremen Nationalismus vor.