: Vermittelt Ungarn zwischen BRD und DDR?
■ Geheimniskrämerei um ungarisch-bundesdeutsche Gespräche über Wirtschaftshilfe und DDR-Flüchtlinge / Ungarns Regierung will auch zu Honecker / Weniger Flüchtlinge / Momper warnt vor Scharfmacherei / Tiefe DDR-Existenzängste in der 'Leipziger Volkszeitung‘
Berlin (ap/dpa/taz) - Trotz zahlreicher Spekulationen über den Blitzbesuch des ungarischen Ministerpräsidenten Nemeth und seines Außenministers Horn in Bonn blieb am Wochenende weitgehend unklar, worüber die beiden mit Kohl und Genscher vier Stunden lang gebrütet haben. Während die Bundesregierung sich ausschwieg, erklärte Horn im ungarischen Fernsehen, die Führungsspitze seines Landes werde auch Ost-Berlin einen Blitzbesuch abstatten, sofern die DDR-Regierung das für nötig erachte. Bei dem Besuch im Westen hätten wirtschaftspolitische Aspekte Vorrang gehabt. Es seien noch keine Vereinbarungen getroffen, aber ein „Grundstein für künftige Vereinbarungen“ sei gelegt worden.
Die vier Politiker sollen nach Informationen von 'dpa‘ „weitreichende wirtschaftliche Probleme“ angesprochen haben, „von der Erweiterung gemeinsamer Industrieunternehmen bis zur Hilfe für eine spätere EG-Assoziierung Ungarns“. In der Flüchtlingsfrage wurden angeblich humanitäre Lösungen in Aussicht gestellt.
Unterdessen blickt niemand mehr durch, wieviele Flüchtlinge an den verschärften Grenzkontrollen Ungarns vorbei nach Österreich gelangen. Am Wochenende sollen 100 bis 180 Flüchtlinge pro Nacht über die grüne Grenze gekommen sein. Angaben über ausreisewillige DDR-Urlauber schwanken stark: Von den rund 200.000 ostdeutschen Feriengästen sollen unterschiedlichen Quellen zufolge zwischen 2.500 und 12.000 Personen auf einen westdeutschen Paß warten.
Daß jene Ausweise von bundesdeutschen Botschaften an DDR -Staatsangehörige verteilt werden, kritisierte die Sowjetunion jetzt als „illegal“. In Bonn hagelte es erneut „Ratschläge“ und Forderungen an die DDR. Dem Einheitsappell für Reformen jenseits der Mauer verweigerte sich nur Berlins Regierender Bürgermeister Momper (SPD). In der „typisch deutschen administrativen Bevormundung, wie unmündige Kinder behandelt zu werden“, sieht Momper den Hauptgrund für die Unzufriedenheit der Zonis. Gleichwohl habe sich in der DDR in den vergangenen Jahren viel geändert. Die Liberalität in der Gesellschaft sei größer, als im Westen gedacht werde. Momper warnte davor, bereits in Gang gekommene Prozesse durch Scharfmacherei von außen zu gefährden.
In dieses Plädoyer gegen die tumben Hammerschläge paßt ein Kommentar der 'Leipziger Volkszeitung‘. Anders als die die alberne Leserbriefkampagne des 'Neuen Deutschland‘ gegen Westmedien - Brigadier XY aus dem Walzkörperwerk Schweina rät zu „zwei Tagen Planvorsprung bis zum Jahresende“ bezeichnet die 'Leipziger Volkszeitung‘ vom Wochenende die Flüchtlingswelle als „alles andere als harmlos“. Aber „wer meint, daß im eigenen Haus noch mancherlei in Ordnung zu bringen sei, verständigt sich doch darüber mit dem Hauseigentümer und legt selbst Hand mit an bei der weiteren Verbesserung und Verschönerung, anstatt zum Nachbarn auf der anderen Seite der Straße zu rennen und sich dort auszuheulen“. Ein wunderbares Bild, über das sich trefflich streiten ließe - wäre da nicht die nackte Existenzangst: „Wir lassen uns (...) nicht verrückt machen. Und wir lassen uns bei unserem Werk von denjenigen nicht stören oder gar zurückzerren, die seit 40 Jahren mit teilweise deckungsgleichen Mitteln und Kampagnen versuchen, das stabile Haus DDR vom Schauplatz der Geschichte zu schieben.“
peb
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen