Wer ist Afghanistans kleineres Übel?

■ Mudschaheddin haben Prestige verloren, die Zeit arbeitet für ungeliebte Regierung / Von Jochen Hippler

Seit dem Abzug der Sowjets und der Schlacht um Dschalalabad

-von den Mudschaheddin vergeblich belagert - hat keine Seite mehr die Chance zu einem militärischen Sieg, die politischen Gewichte verschieben sich langsam zugunsten der Regierung. Mit diesem Eindruck ist Jochen Hippler aus Afghanistan zurückgekehrt. Am vergangenen Wochenende fanden wieder heftige Kämpfe in der Nähe der ostafghanischen Stadt Khost statt: Die Rebellen wollen einen Armeestützpunkt eingenommen, die Regierungstruppen ihrerseits 78 Mudschaheddin getötet und 95 verletzt haben.

So paradox es klingt: Die Stimmung in Kabul im August 1989 ist zugleich gedrückt und entspannt. Die Regierungsvertreter und die mit ihnen sympathisierenden Menschen fühlen sich heute im Gespräch unvergleichlich sicherer, geben sich deutlich lockerer als noch im November des letzten Jahres.

Damals war die Spannung in Kabul offensichtlich: Drei Monate vor dem endgültigen Abzug der sowjetischen Truppen aus der Stadt und aus ganz Afghanistan war die Zukunft höchst unsicher. Wenn die Offiziellen auch Optimismus zur Schau trugen: Ihre Zweifel waren mit Händen greifbar, ihre Nervosität offensichtlich. Und sowjetische Journalisten, Krankenschwestern und Soldaten gaben deutlich zu verstehen, daß die afghanische Regierung wohl kaum eine Überlebenschance habe, sie selbst seien froh, das Land bald verlassen zu können. Schließlich sprachen die Schlangen vor der indischen Botschaft eine deutliche Sprache: Ausreisewillige bemühten sich in großer Zahl um Visa, darunter nicht wenige Regierungsangestellte und Funktionäre.

Als dann im Februar und März dieses Jahres die Sowjetunion tatsächlich ihre Truppen zurückholte und die Mudschaheddin ihre Offensive gegen die Stadt Dschalalabad begannen, erreichten Nervosität und Hektik ihren Höhepunkt - alles schien nun möglich, Zusammenbruch, Putsch, Chaos. Selbst die regierende Demokratisch Volkspartei Afghanistans (DVPA), traditionell tief in sich zerstrittenen, zog erste Konsequenzen: Alle Gruppen und Fraktionen einigten sich auf einen Burgfrieden.

Nationale Versöhnung

Heute wird die Regierung nicht müde zu verkünden, daß der Kampf gegen die sowjetischen Truppen durchaus ehrenwert und verständlich (vielleicht sogar berechtigt) gewesen, der Krieg nach dem sowjetischen Abzug aber nun zum Bruderkrieg geworden sei. Präsident Nadschibullah bot mehr als einmal seinen Rücktritt an - unter zwei Bedingungen: Die neue Regierung der Mudschaheddin müsse einig sein, denn das Land habe von Krieg und Zerstrittenheit genug. Und sie dürfe nicht vom Ausland abhängig sein. In diesem Zusammenhang bemüht sich Präsident Nadschibullah geschickt und durchaus mit Erfolg darum, die Mudschaheddinparteien als Instrumente äußerer Einflußnahme, als Werkzeuge Pakistans, der USA und Saudi-Arabiens zu diskreditieren, sich selbst dagegen als Wahrer der afghanischen Unabhängigkeit ins Licht zu setzen.

Die Regierung beginnt sogar systematisch, den sowjetischen Abzug als Ergebnis und Erfolg der eigenen Politik darzustellen und die sowjetische Intervention als großen Fehler zu kritisieren (siehe Interview). Präsident Nadschibullah spricht nicht mehr von Sozialismus, seine Reden betonen jetzt die afghanischen Traditionen, den Islam, die Verständigung, den Frieden und den Ausgleich. Früher glaubte ihm niemand, seit dem Truppenabzug und dem Sieg in der Schlacht um Dschalalabad ohne sowjetische Hilfe haben die Menschen angefangen, ihm zuzuhören. Sie sind weiter mißtrauisch, aber es entwickelt sich so etwas wie Respekt, vereinzelt Hoffnung.

Nadschibullah ist zur Zeit die einzige wahrnehmbare Stimme, die immer wieder von Frieden und Verständigung spricht, und trotz ihrer Skepsis wollen viele Menschen daran glauben. Die Regierung ist alles andere als beliebt, aber viele Menschen im Basar fangen an, innerhalb der Regierung zu differenzieren und nicht mehr nur die „guten Mudschaheddin“ der „bösen Regierung“ gegenüberzustellen. Der Geheimdienst KHAD ist „very, very bad“, die paramilitärischen Sarandoi des Innenministeriums sind „little good“, zum Teil sogar „free people“. Der wenig kompromißfreudige Chalqi-Flügel der Partei ist „very bad“, die pragmatische Fraktion der Prchamis dagegen „little, little good“. Das gleiche sagt man auch über den Präsidenten, während die radikalen Fundamentalisten der Mudschaheddin um Hekmatyar - da sind sich alle außer seinen eigenen Leuten einig - „very, very bad“ sind. Eher beliebt sind der Exkönig und als gemäßigt empfundene Mudschaheddinführer.

Dennoch haben die Mudschaheddin insgesamt deutlich an Sympathie verloren. Einer, der ihnen nahesteht und ein erklärter Gegner der Regierung ist, formuliert es so: „Ich will Nadschibullah nicht. Aber ein schlechter Präsident mag immer noch besser sein, als sieben sich bekämpfende Gegenpräsidenten, die um die Macht kämpfen. Nach zehn Jahren Krieg braucht Afghanistan eine einzige, starke Hand.“

Man arrangiert sich

mit dem Stärkeren

Die Vergewaltigungen, Massaker und Plünderungen bei der kurzzeitigen Einnahme der Stadt Kunduz vor einem Jahr oder und besonders wichtig in Kabul - die immer wieder vorkommenden ziellosen Raketenangriffe auf die Städte, denen fast ausschließlich Zivilisten zum Opfer fallen, haben sich in das Gedächtnis der Zivilbevölkerung geschrieben, selbst Mudschaheddinsympathisanten fühlen sich bedroht und hoffen auf den Schutz der Regierung. Und schließlich hat die Niederlage von Dschalalabad das Ansehen der Mudschaheddin angeschlagen. Die Bereitschaft, sich mit dem Stärkeren zu arrangieren, ist durchaus Teil der afghanischen Tradition.

„Regierung und Mudschaheddin sind beide schuld, unter beiden muß die Zivilbevölkerung leiden“, heißt es inzwischen. Zwar hat die Regierung nicht die Herzen der Bevölkerung erobert. Sollte die Tendenz der letzten Monate allerdings anhalten, dann kommt irgendwann der Zeitpunkt, zu dem sie als das kleinere der beiden übel gilt.

Auch auf dem Land scheint die Regierung diesem Ziel inzwischen nähergekommen zu sein. Viele der Kämpfer der Mudschaheddin sind kriegsmüde und haben durch den Abzug der sowjetischen Armee den wichtigsten Teil ihrer Motivation verloren: den Kampf gegen die ausländische Intervention der Gottlosen. 70 Prozent der Mudschaheddin in Afghanistan haben inzwischen aufgehört zu kämfen, ohne daß allerdings die meisten von ihnen schon Frieden mit der Regierung geschlossen hätten. Diese bietet ihrerseits routinemäßig den regionalen Mudschaheddinkommandanten Autonomie und Selbstverwaltung in ihrem jeweiligen Einflußgebiet an, wenn sie nur den Kampf beenden. Dafür erhalten sie nicht nur die Herrschaft über die - meist jetzt schon von ihr kontrollierte - Region, sondern auch materielle Unterstützung: Mehl, Zucker, Decken, Gebrauchsgegenstände, Geld. Und sie erhalten Waffen und Ausrüstungsgegenstände bis hin zu Panzern.

Zum Beispiel in der Provinz Ghor (350 Kilometer westlich von Kabul). Dort ließen sich Anfang August drei Mudschaheddinkommandanten und ihre Männer bereitwillig interviewen, die kurz zuvor Friedensabkommen mit der Regierung geschlossen hatten. Der wichtigste dieser drei verfügte über 700 Kämpfer, er war bisher mit der Harakat -Partei in Peshawar liiert. Die beiden anderen gehörten zu Jamiat und führten zusammen 250 Bewaffnete.

In Gesprächen wurde deutlich, daß sich diese Mudschaheddin wesentlich stärker von den konkurrierenden Mudschaheddin der Hisb des Gulbuddin Hekmatyar bedroht fühlen als von der Regierung. Ein bereits länger bestehender informeller Waffenstillstand wurde schließlich durch einen Vertrag mit der Regierung abgelöst, in dem materielle Hilfe, militärischer Beistand und Autonomie vereinbart wurden. Ein Ergebnis wird darin bestehen, daß die Frauen der 150 betroffenen Dörfer weiterhin verschleiert gehen müssen und daß Mädchen sehr wahrscheinlich nicht zur Schule gehen dürfen.

Die Regierung findet sich damit ab. Autonomie für die ehemaligen Gegner bedeutet offenbar auch, daß deren gesellschaftspolitischen Vorstellungen sich in der Region durchsetzen. Ob die Regierung überhaupt eine andere Möglichkeit hätte, steht auf einem anderen Blatt - aber Sozialismus als Idee wird hier nicht nur rhetorisch aufgegeben.