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■ Eine Kurzgeschichte

Donald Barthelme

Meine geistesgestörte Mutter hat wieder ein Buch geschrieben. Diesmal heißt es Der Ast und ist noch schlimmer als die anderen. Ich meine damit nicht seine Qualität - es weist den üblichen „funkelnden Witz“ und die „entlarvenden gesellschaftlichen Beobachtungen“ auf -, sondern das Ausmaß, in dem es wie eine Art Komposthaufen das Leben ihrer Kinder verwertet.

Dieses hier, wie ich schon sagte, ist noch schlimmer als die anderen (zweimal engere Wahl für den American Book Award und einmal für einen Buchgemeinschafts-Alternativtitel). Mein armer Bruder Sampson, der als „Rafe“ auftritt, ist im ersten Kapitel zu finden, in dem er eine Bauchwandspiegelung an einer Patientin vornimmt, die unter dem Eindruck stand, daß sie für einen ganz anderen Eingriff zahlte. Mein Bruder ist ein sehr beschäftigter und beliebter Arzt, und eine Lücke in der Personalausstattung seiner Praxis war für diese verständliche, wenn auch beklagenswerte Verwechslung verantwortlich. Was das Buch nicht mitteilt, ist, daß die Bauchwandspiegelung eine ordentliche Menge verschleppten Gebärmutterschleimhautgewebes offenbarte, dessen er sich in höchstspezialisierter und professioneller Weise annahm und so eine beträchtliche Verstimmung der Patientin vermied. Mutter schreibt nie etwas Gutes über einen von uns in ihren Büchern.

„Rafes“ Beziehung zu „Molly“ (sprich Callie, Sams Ehefrau) wird, wie man sich vorstellen kann, nicht ausgespart. Vor einiger Zeit hatten Sam und Callie eine kleine Meinungsverschiedenheit über sein Verhalten während der GYNOK-Tagung in Miami, als er über mehrere Stunden vermißt wurde, in denen Vorträge über Ultraschall gehalten wurden, und sie erfuhr, daß er einen Saufen gegangen war mit einem Haufen schwerbewaffneter Überlebensspezialisten, die gerne lebensgroße Sperrholzfiguren von Gorbatschow mit ihren (mehr oder minder legalen) Ingram M 11s zerschossen, die sie einhändig feuern können, eine Dose Stroh-Bier in der anderen Hand. Mädchen-Überlebensspezialisten waren ebenfalls vorhanden. Warum das aller Welt mitteilen? Eingriffe sind schließlich das, was den Chirurgen ausmacht. Wie meine Mutter diese Details zusammenträgt, übersteigt mein Fassungsvermögen, da keiner von uns mehr mit ihr geredet hat seit 1974, als Dunkles Eichenholz veröffentlicht wurde.

Die Art und Weise, wie Mutter mit meiner Schwester Virginia umgeht - „Alabama“ in dem neuen Buch (Mutters Maskierungen sind glasklar) -, ist rundweg niederträchtig. Virginia hatte letzthin ein paarmal schlechte Zeiten, was mit dem Unfall und dem radioaktiven Niederschlag nach dem Unfall zusammenhängt. In Der Ast hat „Alabama“ einen Blutalkoholspiegel von 1,8 Promille direkt nach dem Absturz, und diese Zahl stimmt zufällig, wie viele von Virginias Freunden erkennen konnte. Was wirklich verwerflich ist, ist die (schmerzlich genaue) Analyse des Charakters meiner Schwester. Virginia schrieb ihre Dissertation über Emerson; und das tut auch „Alabama“. Daß gewisse Passagen in „Alabamas“ Dissertation verblüffende Parallelen zu neueren Arbeiten von Joel Porte ('Harvard University Press‘) und Eric Cheyfitz ('John Hopkins University Press‘) aufweisen, wird zum ersten Mal in Der Ast bekanntgegeben; ich hätte nicht vermutet, daß Mutter solch eine Gelehrte ist. Die Ziele in dem Buch: „Sie sollten mich nicht ohne Stützräder in eine Bar gehen lassen“, ist O-Ton Virginia.

Mein anderer Bruder Denis (der „gute Bruder“ in dem Buch) hat seine Anwälte gebeten, sich die juristischen Möglichkeiten anzusehen. Sie haben ihm mitgeteilt, daß seine Mutter zu verklagen im günstigsten Fall ein peinliches Unterfangen sei, und daß der Anschein von Pietätlosigkeit eines Kindes mehr oder minder bei der Jury jegliche Berechtigung, die eine solche Klage haben könnte, aufhebt. Darüber hinaus machten sie ihn darauf aufmerksam, was ganz vernünftig ist, daß der Öffentlichkeitscharakter eines solchen Verfahrens, das sich um eine weithin bekannte Autorin dreht, dazu neigen würde, die Aufmerksamkeit gerade auf einige der Dinge zu lenken, denen kein besonderes Gewicht beizumessen uns am Herzen liegt: zum Beispiel Denis Gewohnheit, Morphininjektionsspritzen aus US-Armeebeständen von unzufriedenen Hauptfeldwebeln des Sanitätskorps zu erstehen, und die sinnreichen Orte, die er findet, um sie in seinem Büro zu verstecken (ausgehöhlte Zigarren, das Ventilatorgehäuse seines Computers) und die Folgen davon für sein Börsenmakler-Unternehmen, alles bis ins kleinste Detail in Der Ast. Ich muß gestehen, daß ich noch nie einen aufschlußreichen Bericht über die „jouissance“ gelesen habe, die hochgradiges Morphium auslösen kann. Welche fleißige kleine Biene hat ihr wohl die Informationen hinterbracht?

Der Ast ist auf Platz neun diese Woche auf der 'Los Angeles Times‘ Bestsellerliste. So sorgt Stamfort, Connecticut, für Kitzel in Santa Barbara via Mutters bienenlauter Lichtung in Old Lyme. Irgendwie hat sie Einzelheiten meines „Diebstahls“ mehrere bedeutungsloser Medizinbeutel (Tuch, bemaltes Holz, Federn) aus dem Amerikanischen Eingeborenen-Institut entdeckt, dessen früherer Chef-Kurator ich war. Ich sage „Diebstahl“, denn ich möchte mit mir selbst in dieser Sache so streng wie nur möglich sein; andere würden es „kreatives Entakzessionieren“ nennen, das Geister-Tanz-Material (Trommel-Diagramme, Tanz -Notierungen), das ich im Tausch erhielt und dessen Wert dem Kuratorium nie aufgegangen wäre, wird mein Denkmal sein. Ja, der Finderlohn, der bei dieser Transaktion berechnet wurde, war recht beträchtlich, eine hohe sechsstellige Zahl, wie Mutter nicht versäumt anzuführen, doch Willie Springendes Reh und ich haben jeden Pfennig davon verdient. Niemand, der den Geister-Tanz wirklich versteht, dessen Ziel es war, die Teilnehmer undurchdringlich den Übergiffen des „Weißen Mannes“ gegenüber zu machen (Gewehrkugeln eingeschlossen), hätte auch nur einen Augenblick gezögert. „Mark“ hat eine lächerliche Affäre mit einem Dakota-Schamanen zweifelhaften Geschlechts, und nichts davon ist wahr bis auf die Trance -Szene; überdies spielten bei den Gesängen zu dieser Gelegenheit keinerlei Rauschmittel eine Rolle bis auf das Kinderliedchen Pinafore, das ich Wokodah beibrachte und das ihm großes Vergnügen bereitete.

Es ist ja nicht so, daß wir, die Kinder meiner Mutter, beispielhafte Leben führten oder vorgeben, sie zu führen. Aber könnte sie ihren Horizont nicht ein kleines bißchen erweitern?

„Mutter, warum tust du uns das an?“ fragte ich sie kürzlich.

Mutter sieht immer noch gut aus und ähnelt auf sorgsam kultivierte Weise Virginia Woolf.

„Was?“ sagte sie. „Was tue ich?“

Ich hielt eine Ausgabe von Der Ast in die Höhe. „Das hier“, sagte ich und zielte mehr oder minder damit auf sie.

„Aber ihr gehört mir“, sagte sie.

Übersetzt von Vera Pagin