Oppositionelles Gründungsfieber

■ Oppositionelle wollen in der DDR eine SPD und eine Sammlungsbewegung etablieren

Der Drang der DDR-Opposition nach übergreifenden organisatorischen Strukturen kommt einigermaßen überraschend; denn bislang zeichnete sich - die im Westen oft überschätzte - Szene vor allem durch ihre, offensiv vertretene Vielfältigkeit aus. Die politische Kehrseite der Grüppchenwirtschaft waren regional beschränkte Aktionen , die oft kaum über die Artikulation oppositioneller Befindlichkeit hinausreichten. Die Überwindung ihrer gesellschaftlichen Isolation, die breitenwirksame Entwicklung politischer Alternativen, gar die Etablierung einer gesellschaftlichen Gegenmacht zum verknöcherten System blieb bislang Illusion. Daß es der Opposition nicht gelungen ist, in der aktuellen Ausreisekrise öffentlichkeitswirksam Position zu beziehen, wirft ein Licht auf ihre Politikfähigkeit. Wenn jetzt der Ruf nach übergreifenden Organisationen laut wird, so ist dies auch die selbstkritische Konsequenz aus der Misere der Opposition, die von der akuten Krise der DDR ebenso überrumpelt wurde wie die SED-Führung selbst.

Züge dieser Überrumpelung allerdings tragen auch die Gründungsinitiativen, die sich jetzt hervorwagen. Der qualitative Sprung ist intendiert - doch die jüngsten Aktivitäten erinnern deutlich an die bisherige Praxis. Die unterschiedlichen Aufrufe lassen befürchten, daß ein Ende der kräfteabsorbierenden Zersplitterung noch nicht in Aussicht steht. Möglicherweise hat gerade der von der Ausreisekrise provozierte Reaktionszwang eine Koordination der Initiativen erschwert. Doch hinter den verschiedenen Aufrufen stehen unterschiedliche Konzepte. Aber alles spricht dafür, daß jetzt nicht die kleinliche Pointierung divergierender inhaltlicher Reformansätze, sondern die Formierung aller Reformkräfte auf der Tagesordnung steht.

Dieser Intention käme eine Sammlungsbewegung deutlich näher als der Gründungsversuch einer Ost-SPD. Denn die zwangsläufige programmatische Assoziation zur West-SPD schließt - ungeachtet bestehender sozialdemokratischer Traditionslinien in der DDR - einen Großteil der existenten Szene von vornherein aus. Zudem deutet es auf die Unsicherheit der Akteure hin, wenn sie jetzt ihre Keimzelle

-recht unvermittelt - mit einem etablierten Etikett versehen. Pikant daran ist nur, daß die SPD, die sich guter Kontakte zur SED rühmen darf, jetzt in Zugzwang gerät. Wenn die Gründungsinitiative allerdings auf Unterstützung ihres westlichen Namensvetters hofft, wird die Enttäuschung kaum ausbleiben: „Wir können nicht viel für Euch tun“, signalisiert die Bonner Zentrale.

Die sich sammelnde Opposition in der DDR bleibt vorerst auf ihre eigenen Kräfte angewiesen. Doch der Ausreisewelle jetzt die Gründungswelle folgen zu lassen wäre kaum erfolgversprechend. Auch wenn pluralistische Verhältnisse das Ziel der DDR-Opposition sind, mit einer pluralistisch organisierten Opposition werden sie noch schwerer zu erreichen sein.

Matthais Geis