: Millionenspende für ein „Weglaufhaus“
■ Projekt für Psychiatriebetroffene scheitert am Senat / Senatorin Stahmer hat kein Geld im Haushalt 1990 vorgesehen
Ein anonymer Spender hat der psychiatrischen Selbsthilfeorganisation „Irrenoffensive“ eine Million Mark für den Bau eines „Weglaufhauses“ in Aussicht gestellt. Die Idee für das Projekt stammt aus Holland, wo bereits acht solche Einrichtungen bestehen. Es will Betroffene, die aus der Psychiatrie geflohen sind, aufnehmen und betreuen. Bundesweit wäre es das erste seiner Art.
Auf der gestrigen Pressekonferenz forderte Profesor W.-D. Narr in Stellvertretung des Spenders die Unterstützung des Senats, da die Spende an die Bereitschaft des Senats geknüpft sei, Personal- und Folgekosten zu tragen.
Obwohl in den Koalitionsvereinbarungen die Förderungen eines Weglaufhausese festgeschrieben wurde, teilte die Senatsverwaltung dem Verein mit Schreiben vom 15.8.89 mit, daß im Haushaltsplanentwurf für 1990 die beantragten 1,5 Millionen nicht vorgesehen sind. Der ALer Bernd Köppl erklärte dazu auf Anfrage, daß seine Fraktioen in Verhandlungen mit der SPD „irgendwie erreichen“ wolle, daß das „in der Prioritätenliste relativ weit oben stehende Weglaufhaus“ im Rahmen der Haushaltsverteilungen wenigstens teilweise finanziell berücksichtigt wird.
Keinesfalls, so der ehemalige Psychiatriepatient Peter Lehmann von der Irrenoffensive, der sich als Buchautor zu den Folgen von Neuroleptika einen Namen gemacht hat, wolle man „weiterhin unbezahlt die Schäden bearbeiten, die andere bezahlt verursachen“. „Als Hobby geht das nicht.“
Da 95 Prozent aller Psychiatriepatienten mit solchen Psychopharmaka „behandelt“ werden, gibt es nach Meinung der Irrenoffensive derzeit eine „Unversöhnlichkeit des Interessengegensatzes von Psychiatern und ihrem Drang nach Behandlung und den an Selbstbestimmung interessierten Betroffenen“.
Sie lehnen deshalb eine vom Senat gewünschte Beteiligung von psychiatrischem Fachpersonal für ihr Weglaufhaus kategorisch ab. Das sei in etwa so, als wolle man für die Leitung eines Frauenhauses einen Mann einstellen.
Das Konzept des Vereins für das Weglaufhaus beinhaltet in erster Linie „Zufluchtsmöglichkeiten vor der Gewalt in der Psychiatrie“, Aufenthalt ohne Psychopharmaka, Gestaltung des Lebens nach den Bedürfnissen der Betroffenen. Praktische Hilfe bei Arbeitsplatz- und Wohungssuche und im Umgang mit Behörden soll angeboten werden. Die Mitglieder der Irrenoffensive habe in neunjähriger Arbeit die Überzeugung gewonnen, daß ein Leben innerhalb der Psychiatrie unmenschlich ist und sie sind überzeugt, daß zukünftige Nachbarn des potentiellen Weglaufhauses „feststellen werden, daß die Verrückten nicht so verrückt sind, wie sie es im Kopf haben“.
Sigrid Bellack
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