: Udo Knapp-betr.: "Reiß den Stacheldraht aus dem Kopf", taz vom 24.8.89
betr.: „Reiß den Stacheldraht aus dem Kopf“, taz vom 24.8.89
Die Debatte um den Status der ausgereisten beziehungsweise geflüchteten Menschen aus der DDR wäre müßig, gälte die Parole von den offenen Grenzen. P.Lohauß‘ Vorstoß, DDR -Flüchtlinge wie Asylsuchende aus Nicht-EG-Ländern zu behandeln, fußt anscheinend in dem Denken, nur den unmittelbar politisch Verfolgten den Aufenthalt in der BRD und West-Berlin zu gewähren. Die damit angeschnittene Problematik ist bekannt: Asylsuchende aus Kriegs- und Krisengebieten Afrikas, Asiens und Amerikas fungieren in dieser Sicht nur als „Wirtschaftsflüchtlinge“, obwohl die historischen Determinanten ihres Schicksals in der Politik der nördlichen Wirtschaftsmetropolen zu finden sind.
In moralischen Kategorien gesprochen, liegt hier eine Schuld der fortgeschrittenen kapitalistischen Industriegesellschaft vor, die abzustatten den Opfern ihres Fortschritts Pflicht wäre. Dieser Zusammenhang zwischen Norden und Süden - de facto realisiert als Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnis, formell bestehend im Anspruch der Drittweltländer auf Gerechtigkeit und Wiedergutmachung tritt eigenartig zurück gegenüber einem Phänomen, das so gar nichts mit Hunger und Elend, Folter und Zwang, Tod und Entsetzen zu tun hat. Als Flüchtlinge erster Klasse genießen DDR-BürgerInnen im deutschen Westen eine zuvorkommende Behandlung, die merkwürdig harmoniert mit den wohlsituierten Lebens- und Arbeitsverhältnissen, von denen sie sich abwendeten.
Nun ist Gängelung und Maulkorb im DDR-Alltag eine Tatsache und die „demütigenden Warteschlangen“, die zu beschreiben bürgerlich-konservative bis linksliberal gesinnte Kommentatoren nicht müde werden, ebenso. Aber die Hölle, die Hölle ist es nicht. Es wirkt daher befremdlich, wenn Udo Knapp, Rechtsaußen und Mitarbeiter der Grünen, die Lage in der DDR als unerträglich darzustellen versucht. Unerträglich ist eher sein verhohlener Nationalismus, mit dem er die Privilegierung der reichsten RGW-BürgerInnen im Land der wohl reichsten EG-BürgerInnen zu legitimieren sucht.
„Sie gehören historisch einfach irgendwie in unseren sogenannten deutschen Laden“ (Udo Knapp). Bei soviel Umständlichkeit aus schierer Verlegenheit möchte ich das „irgendwie“ aber bitte nicht irgendwie geklärt haben. Denn wie einfach es sich eine Argumentation im Zeichen des Irgendwie macht, beweist F.Kliers Wort vom „linken Rassismus“, ein bemerkenswerter Blackout einer engagierten Frau. Rassistisch in ihrem Sinne ist dann jeder, der den Minderwertigkeitskomplex vieler DDR-Menschen nicht für das nimmt, was er ist: pure Einbildung, Heuchelei, eine Form psychologisch-sozialer Hypochondrie.
Auch die Rede U.Knapps, eines Marcuse-Kenners, fällt unter die Rubrik „bemerkenswert“, basiert doch seine Argumentation auf einem Weltbild, das nicht anders als eindimensional zu nennen ist. Überzeugt von der „Idee eines autonomen, mit Freiheitsrechten ausgestatteten Individuums“, mahnt er die Ostberliner Regierung an, nun endlich die „Ideen der Aufklärung, von Demokratie, Öffentlichkeit und Markt“ zu adaptieren. Wer so hemmungslos Freiheit mit Kapitalismus, Menschenrechte mit Marktwirtschaft, Bourgeois mit Citoyen identifiziert, ist einem Universum des Denkens und Handels verfallen, das sich in der blinden Affirmation der geschichtlich erreichten politisch-ökonomischen Organisationsstufe erschöpft.
Tatsächlich bleiben die „wahrhaft universellen Ideen der Menschenrechte aus der Amerikanischen und Französischen Revolution“ solange nur Ideen, wie die darin angelegte Utopie einer freien und menschenwürdigeren Gesellschaft ohne politische Unterdrückung und ökonomische Ausbeutung von der kapitalistischen Produktionsordnung korrumpiert und für legitimatorische Zwecke in die Sphäre des ideologischen Überbaus verbannt wird. Tatsächlich hat auch die historische Realität einer sozialistischen Demokratie, die diesen Namen zu tragen nicht verdient, beträchtlich zur Korruption der Begriffe beigetragen.
Wohin mit den Flüchtlingen? Kommenlassen, eingemeinden wie alle übrigen auch und hoffen, daß es nicht die schlechtesten sind.
Andree Slickers, Berlin 21
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