Erste Pressekonferenz der Tegeler Gefangenen

■ Rot-Grün will Gefangene an Strafvollzugsreform beteiligen und erlaubt Presseinformation in Eigeninitiative / Häftlinge kritisieren Haftbedingungen und fordern Einkaufs- und Ärztezentrum sowie Räume für sexuelle Kontakte / Katastrophale Zustände in Teilanstalten II und III

Zum ersten Mal in der Geschichte der Berliner Justiz haben gestern Strafgefangene der JVA Tegel die Gelegenheit erhalten, auf einer Pressekonferenz über Mißstände zu informieren und Forderungen vorzulegen. Mitglieder des erst vor zwei Wochen gegen den Willen der Anstaltsleitung gewählten Gesamtinteressenvertretung brachten massive Beschwerden über die medizinische Versorgung, die Besuchsregelungen, die Arbeitssicherheit und das -entgelts sowie über das Essen vor.

Die Eigeninitiative der Gefangenen kam zustande, weil Justizsenatorin Jutta Limbach (SPD) die Häftlinge aufgefordert hatte, sich an der vom rot-grünen Senat geplanten Strafvollzugsreform zu beteiligen. In allen Teilanstalten des Gefängnisses waren zuvor Interessenvertreter gewählt worden. Die Teilanstalt II mußte einen „kommissarischen Vertreter“ schicken, weil die Wahl wegen Repressalien von den Insassen nicht anerkannt wurde.

Die Inhaftierten kritisierten insbesondere die mangelnden Resozialisierungsmaßnahmen im Tegeler Vollzug. Sie forderten, für jeden Gefangenen unter dessen Mitwirkung einen Vollzugsplan aufzustellen. Außerdem machten die Vertreter den Vorschlag, die TA II, in der vor allem Langstrafer einsitzen, nach Moabit zu verlegen. Sämtliche Drogenabhängige, „die im Vollzug nichts zu suchen hätten“, sollten nach Plötzensee verlegt werden und dort unter Vollzugslockerungen therapiert statt bestraft werden. Auf lange Sicht müsse auch die Zusammenfassung von Männern und Frauen in eine Anstalt ins Auge gefaßt werden.

Eine weitere Forderung der Gefangenen ist die Aufnahme in die Sozial- und Rentenversicherung sowie eine „leistungsgerechte“ Entlohnung der Arbeit in den Werkstätten des Gefängnisses (bisher zwischen 5 und 10 Mark täglich). Was soziale Kontakte und Besuchsregelungen angeht, forderten die Vertreter einen Abbau der „abschreckenden“ Kontrollen von Familienangehörigen. Auch müßten die sogenannten Familienräume, die sexuelle Kontakte ermöglichen, wieder geöffnet und erweitert werden.

Weiter wiesen die Insassenvertreter auf Mängel der Arbeitssicherheit und der medizinischen Versorgung hin. So werde in der Lackiererei ohne die vorgeschriebenen Filtermasken mit Nitrolacken gearbeitet. Für die rund 1.000 Häftlinge stünden nachts und am Wochenende nur drei Sanitäter „mit unzureichenden Kenntnissen“ zur Verfügung. Dadurch würden oft keine genauen Diagnosen gestellt und Erkrankte bis zum Wochenanfang aus Bequemlichkeit nur notversorgt.

Wegen der im Knast weitverbreiteten Drogenabhängigkeit forderten sie die Ausgabe der Ersatzdroge Methadon und die Verteilung kostenloser Spritzbestecke. Momentan würden sich bis zu 15 Gefangene eine Spritze teilen. HIV-Infizierte sollten sofort entlassen und Aids-Erkrankte in Krankenhäuser außerhalb verlegt werden. Das Essen in der Anstalt wurde als „unzumutbar“ kritisiert. Meist werde der tägliche Verpflegungssatz von 6,10 Mark weit unterschritten. Ständig würden Rationen gekürzt. Außerdem müßten die katastrophalen Haftbedingungen in den Teilanstalten II und III abgestellt werden. Der Anstaltsleiter der III, Müller, müsse abgelöst werden.

Von seiten des Justizsenats wurde gestern der Großteil der Forderungen als „diskussionswürdig“ bezeichnet. Die „persönliche Kritik an einzelnen leitenden Mitarbeitern“ wurde von Justizsprecher Achhammer zurückgewiesen.

kotte