Fakten und Legenden zum Kriegsbeginn

Marian Wojciechowski ist Generaldirektor der staatlichen Archive Polens, Professor an der Universität Warschau und stellvertretender Vorsitzender der gemeinsamen deutsch-polnischen Schulbuchkommission  ■ I N T E R V I E W

taz: In der Bundesrepublik wird zur Zeit die Hypothese diskutiert, daß der Hitler-Stalin-Pakt den Zweiten Weltkrieg erst möglich gemacht hat - wie sieht das aus polnischer Perspektive aus?

Marian Wojciechowski: Jeder Politiker sollte in einer bestimmten Lage mindestens zwei Varianten für sein Handeln haben. Bei seiner Planung für den Überfall auf Polen hatte Hitler eine Alternative in Form des „Reichsparteitages des Friedens“, der in Nürnberg für den 3.September 1939, geplant war. Dieser Parteitag wurde schon am 14.August 1939 abgesagt, was zu diesem Zeitpunkt noch geheime Reichssache war. Es scheint, er habe an diesem Tag die zweite Variante verworfen, übrig blieb nur noch der Krieg gegen Polen.

Was hieße, der Hitler-Stalin-Pakt war nicht die Voraussetzung für den Angriff auf Polen, sondern nur ein Mittel dazu.

Ich denke, Hitler war so entschlossen zum Angriff auf Polen, er war so überzeugt, daß die Westmächte nicht in den Krieg eintreten würden, daß er wohl auch ohne den Hitler -Stalin-Pakt angegriffen hätte. Aber der Pakt schuf für Hitler eine sehr vorteilhafte Lage, weil er in seinen Augen einen Kriegseintritt der Westmächte vollkommen ausschloß und weil er ein Problem löste, das er sonst erst hätte im Laufe der Ereignisse lösen können: das Problem Rußland. Er hätte sich auch so irgendwann mit Stalin einigen müssen, wenngleich dann wahrscheinlich die territorialen Vorteile für Stalin geringer ausgefallen wären. Aber es war besser, das im voraus festzulegen, denn er konnte ja nicht wissen, wie das ausgehen würde.

In der Bundesrepublik gehen die Meinungen darüber auseinander, ob Polen von diesem Angriff überrascht wurde. Einerseits heißt es, die polnische Luftwaffe sei am Boden zerstört worden...

Das stimmt nicht.

Zum anderen wird darauf hingewiesen, es habe in den Tagen unmittelbar vor Kriegsausbruch in Polen eine regelrechte Spione-Hysterie, ja sogar antideutsche Hetzkampagnen gegeben.

Leider sind fast alle polnischen Quellen über die Monate vor Kriegsausbruch zerstört worden. Meinem Eindruck nach hatte man in Polen bis zuletzt die Illusion, es werde doch nicht zum Krieg kommen. Man hat auch einerseits die Bedeutung des Hitler-Stalin-Paktes unterschätzt und andererseits den Beistandspakt mit Großbritannien überschätzt. Den Ausdruck „antideutscher Chauvinismus“ würde ich in diesem Zusammenhang nicht verwenden, obwohl die Beziehungen zwischen Deutschen und Polen in der Zwischenkriegszeit in Polen nicht wirklich gut waren. Man ging sich aus dem Weg. Man darf nicht vergessen, daß die Deutschen der Ansicht waren, die Zugehörigkeit der Gebiete zu Polen, die ihm im Versailler Vertrag zugesprochen wurden, sei nur eine vorübergehende Angelegenheit. Sie haben auch nicht Polnisch gelernt.

Das Verhältnis zwischen Volksdeutschen und Polen in den ersten Kriegstagen gehört auch zu jenen Themen, in denen es deutliche Unterschiede zwischen polnischen und deutschen Historikern gibt. Nach bundesdeutscher Version sind am 3.September 1939 etwa die Polen in Bromberg-Bydgoszcz grundlos über die nichtsahnenden Volksdeutschen hergefallen und haben Hunderte, wenn nicht Tausende von ihnen ermordet.

Da möchte ich auf das Buch von Günter Schubert hinweisen, das in diesen Tagen in der Bundesrepublik erscheint: (Unternehmen Bromberger Blutsonntag - Tod einer Legende), und das mit dieser Legende aufräumt. Schubert weist darin unter anderem nach, daß es in Bromberg-Bydgoszcz organisierte deutsche Heckenschützenaktionen gab und daß die Zahl der Opfer unvergleichlich geringer war als die nationalsozialistische Propaganda und auch einige bundesdeutsche Historiker behaupten.

Unter den Deutschen in der Tschechoslowakei gab es solche, die nicht mit Hitler sympathisierten und - wie etwa die Sozialdemokraten - gegen den Anschluß ans Reich auftraten. Manche meldeten sich sogar als Freiwillige in der tschechoslowakischen Armee. Gab es solche Fälle auch unter den Volksdeutschen in Polen?

Da sind zuerst die Christdemokraten in Schlesien zu nennen, besonders Senator Pant, der den Nationalsozialismus aus christlicher Motivation heraus bekämpfte. Man muß allerdings leider sagen, daß der schlesische Wojewode Grazynski das nicht zu würdigen wußte. Auch die Sozialdemokraten in Lodz gehören dazu. Aber das waren Einzelfälle.

Bei den Verhandlungen zwischen Kucza und Teltschik ist auch immer wieder die Forderung von deutscher Seite aufgetaucht, in Kreisau-Krzyzowa ein Denkmal für den bürgerlichen Widerstand in Deutschland zu errichten. Was halten Sie davon?

Ich finde, daß Helmuth James von Moltke das verdient hat. Moltke muß man aus dem Umfeld des konservativen Widerstandes, etwa des Adels, des Offizierskorps oder Gördelers herausheben. Denn diese Leute waren im allgemeinen ziemlich antipolnisch eingestellt. Nach 1940 war für sie klar, wie 1914 verlaufen würde. Daß also das, was Hitler mit Gewalt erobert hatte, auch in Zukunft Deutschland gehören müsse. Ich will aber nicht alle in einen Topf werfen, aber Moltke war da einer, der perspektivisch gedacht hat. Man muß sagen, daß die deutsche Rechte antinationalsozialistisch war, aber zugleich auch antipolnisch. Aber wer die Hand gegen Hitler erhoben hat und dabei sein Leben riskierte, verdient von polnischer Sicht aus allemal Respekt.

Gab es Kontakte zwischen dem polnischen und deutschen Widerstand?

Kaum. Es heißt, der spätere Krakauer Kardinal Sapieha habe mit Moltke Kontakt gehabt. Aus der Korrespondenz Sapiehas geht das nicht hervor. Wenn ja, dann war das aber ohne größere Bedeutung. Außerdem war Polen am Anfang des Krieges in den Betrachtungen und Einschätzungen des Widerstandes eher eine „quantite negligeable“. Polen hätte eine Bedeutung haben können 1944, aber da war auch die Lage Deutschlands eine andere.

Interview: Klaus Bachmann