: Zwei Deutsche im Krieg
■ Der Publizist Erich Kuby (79) und der Sozialforscher Theo Pirker (67) haben den Zweiten Weltkrieg und die Deutschen im Krieg beide als Linke, aber doch ganz unterschiedlich erlebt. Im Gespräch mit Christian Semler
taz: Herr Kuby, Herr Pirker, Sie haben beide am Zweiten Weltkrieg teilgenommen, Ihr Denken und Ihre spätere Arbeit als Publizisten beziehungsweise Wissenschaftler sind durch diese Erfahrung stark geprägt worden. Wie haben Sie die Stimmung in Deutschland bei Kriegsausbruch empfunden, was dachten Sie selber?
Theo Pirker: Ich bin Jahrgang 1922, war also zu Beginn des Krieges 17 Jahre alt. Ich war im Leihamt beschäftigt, einer städtischen Behörde, die ziemlich straff nazistisch organisiert war. Als Ende August eine „große“ Führerrede angekündigt wurde, wurden wir alle vergattert, uns zum Zuhören im Versammlungssaal einzufinden. Es waren alle möglichen „Typen vertreten, Supernazis, Mitläufer, Neutrale. Als Hitler bekanntgab, seit 5 Uhr 45 werde zurückgeschossen, herrschte allgemeine Bestürzung. Von Begeisterung konnte keine Rede sein. Wir sind bedrückt an unsere Arbeit zurückgegangen, haben es auch vermieden, uns über das Thema Kriegsausbruch zu unterhalten. Jeder Vergleich mit der Hysterie vom August 1914 ist ausgeschlossen.
Erich Kuby: Ich will etwas weiter zurückgehen. Meiner Familie und mir war seit 1933 klar, daß Hitler Krieg bedeutet. Ich bin selbst - damals war ich 24 Jahre alt nach Jugoslawien gegangen, habe aber dort keinen Fuß auf den Boden gekriegt, bin nach einem Jahr zurückgegangen. August 39 war ich in Weilheim, einem kleinen Ort bei München. Als die Nachricht vom Abschluß des Nichtangriffspakts bekannt wurde, sprach ich mit einem kleinen Unternehmer. „Endlich wieder große deutsche Politik“, sagte dieser Mensch, der bestimmt kein Nazi war. In diesem Augenblick war mir klar, daß der Krieg unmittelbar bevorsteht. Ich bin dann nach Berlin gefahren, und in meinem (später veröffentlichten) Tagebuch können Sie den Satz finden: „Berlin geht wie auf Zehenspitzen.“ Damals schrieb mir meine Frau, Schwägerin Heisenbergs, daß die Spaltung des Atomkerns gelungen sei und daß bei einer genügend großen Masse spaltbaren Materials eine Stadt wie New York in Weißglut verwandelt werden könne. Eine schreckliche Vision, die - wie Sie wissen - am Ende des Kriegs Wirklichkeit wurde. Unser Verhältnis zum Krieg wurde durch die Kenntnis dieser Möglichkeiten von Anfang an geprägt.
Theo Pirker: Ein paar Sätze zu meinem Familienhintergrund. Mein Vater war Austromarxist, meine Mutter Kommunistin übrigens eine der vielen Kommunisten, die nie Karl Marx gelesen haben -, sie hatte aktiv an der Münchener Räterepublik teilgenommen. Mein älterer Bruder - Jahrgang 1911 - kam kurz vor 33 nach Hause und sagte: „Ich will mit den Kommunisten nichts zu tun haben, die haben ja nicht mal ein Maschinengewehr.“ Er ging dann 32 zum nationalbolschewistischen Flügel der SA. Nach Hitlers „Machtergreifung“ erklärte meine Mutter kategorisch: „Ihr könnt diskutieren, was ihr wollt, interessiert mich gar nicht. Ich sage nur: Hitler, das ist der Krieg.“ Mein eigenes Verhältnis zum Nazistaat in der unmittelbaren Vorkriegszeit war gespalten. Einerseits war ich gegen den Faschismus - wir sahen 1938 mit Entsetzen den Jubel der Österreicher beim „Anschluß“ -, andererseits kam unsere Familie aber selbst aus Österreich, und wir hatten auf der Linken seit 1919 für die Vereinigung Österreichs mit Deutschland gekämpft. Außerdem war ich von allem Technischen begeistert, besonders vom Fliegen. Als der Krieg begann, war für mich klar, daß ich Flieger werden muß. Zum Entsetzen meiner Mutter und mit einer gefälschten Unterschrift meldete ich mich mit 18 bei der Luftwaffe.
Kuby: Bei mir lief das anders. Ich war beim „Polenfeldzug“ nicht dabei, wurde erst bei dessen Ende eingezogen. Die raschen Siege in diesem Krieg führten übrigens zu einem gründlichen Stimmungsumschwung in Deutschland. Als Warschau bombardiert wurde, jubelten die Leute, als sie die Wochenschauen sahen. Die Frustrationen im Verhältnis zu den Polen lösten sich in Begeisterung darüber auf, daß endlich das verdammte Polen zu Boden geschlagen wird. Es gibt ja Wochenschauaufnahmen, die Hitler zeigen, wie er durch ein Scherenfernrohr die Bombardierung beobachtet und anschließend in einen Veitstanz ausbricht. Die Infantriedivision, der ich zugeteilt wurde, kam gerade aus Polen zurück.
Wie verhielten sich die Soldaten nach diesem scheinbar mühelosen Sieg?
Kuby: Als einfacher Schütze - ein Mannschaftsgrad, den ich übrigens bis Kriegsende beibehalten habe, was nicht leicht war - hatte ich natürlich Gelegenheit, mit vielen Leuten zu sprechen. Sie erzählten von ihren Heldentaten, aber auch von Grausamkeiten und Verbrechen, deren Zeuge sie geworden waren - Zusammenschlagen von Polen und Juden, Erschießen von Zivilisten. Sie erzählten das aber keineswegs mit Entrüstung. Da wurde mir klar, daß ich das Maul halten mußte. Bezogen auf den ganzen Krieg: Ich bin ziemlich viel herumgeschoben worden, war in vielen Truppenteilen und habe mal ausgerechnet, daß ich mit 2.000 Soldaten ins Gespräch gekommen bin. Von diesen 2.000 konnte ich mit ganzen sechs offen reden. Mit zwei von ihnen habe ich mich eng befreundet, sie haben mir sehr geholfen. Wenn ich den restlichen 1.994 meine Meinung über Hitler und den Krieg gesagt hätte, bin ich sicher, daß sie mich gemeldet hätten.
Ich könnte mir vorstellen, Herr Pirker, daß Sie andere Erfahrungen gemacht haben und zu anderen Schlußfolgerungen gekommen sind.
Pirker: Erst mal: Ich war ein guter Soldat. Pilot bin ich übrigens nie geworden, die Pilotenschulen waren durch die älteren Jahrgänge überfüllt. Meine Erfahrung auf den Begriff gebracht: Der Krieg stürzt jeden, der wirklich zu kämpfen gezwungen ist (und ich war in Einheiten, in denen dieser Zwang bestand), in einen ethischen Zwiespalt, vor allem die operativen Ränge, Kompanie- oder Bataillonsführer. Ich meine weniger die Frage, wie man sich als Besatzer verhält, womit ich auf dem Balkan konfrontiert war. Ich meine die schizophrene Situation, in die man gerät, wenn man Bestandteil der Militärmaschinerie ist und gleichzeitig an den Werten festhalten will, für die man sich entschieden hat. Bis man nachts völlig erschöpft oder besoffen zusammenbricht, versucht man zu entscheiden, was für die Leute und für einen selbst das Richtige ist.
Meine Erfahrung, die auch später meine Arbeit als Sozialwissenschaftler bestimmt hat, heißt: Wenn man erst mal in der Maschinerie des Kriegs gefangen ist, haben individuelle Wertentscheidungen kaum noch Bedeutung. Man kriegt seine Marschroute (die Russen haben den Terminus übrigens als Lehnwort übernommen), und dann muß man marschieren. Bei den Soldaten, Kollege Kuby, mit denen ich zusammenkam, herrschte tiefe Verzweiflung.
Kuby: Ich bestreite, daß es bei den deutschen Soldaten und Offizieren schizophrene Haltungen gegeben hat, wie sie, Herr Pirker, sie beschreiben. Gut, es wurde geschimpft: Das Essen ist schlecht, wir wollen heim zu Muttern. Der politische Wert dieses Schimpfens war Null. Die Triumphgefühle, hervorgerufen durch den Polen- und Frankreichfeldzug, waren auch nach Stalingrad aus dem Deutschen nicht herauszukriegen.
Ich selbst habe an der Front funktioniert, ich wollte mir nicht vorwerfen lassen, ich drücke mich vor irgend etwas. Während des Kriegs habe ich ungefähr sieben Schuß abgegeben, die aber bestimmt niemanden getötet haben.
Pirker: Ich hab‘ einen ganz anderen Krieg erlebt. Wenn man beispielsweise in einer Luftlandedivision, die über Kreta fast völlig vernichtet wurde, kämpfen mußte und anschließend einer rumänischen Division an der Ostfront als „Korsettstange“ eingezogen wurde, dann machte man Erfahrungen, die einen nicht mehr losließen. Anfang 42 habe ich in Kischinew offen mit jungen Soldaten, Studenten, gesprochen - über das Hitlerregime und darüber, daß der Krieg
nicht zu gewinnen war. Wir teilten schließlich schon die Erfahrung der Niederlage. Einige dieser Studenten habe ich später in München im Zusammenhang mit der Widerstandsgruppe Weiße Rose wiedergetroffen.
Herr Kuby hat im Krieg nur sieben Schuß abgegeben. Fiel es Ihnen, Herr Pirker, schwer zu töten?
Pirker: Nein. Denn man kommt in eine Situation hinein, die „Genosse“ Trotzki recht genau beschrieben hat. Man muß die Soldaten der Roten Armee, schrieb er, in eine Situation bringen, wo sie nur zwei Möglichkeiten haben zu fallen: nach vorne oder nach hinten.
Haben Sie nie daran gedacht, sich gefangennehmen zu lassen oder zu desertieren?
Pirker: Wir wußten, daß zahlreiche Gefangene von der Roten Armee ermordet worden waren. Desertion schien uns gleichbedeutend mit Selbstmord zu sein. Das kam überhaupt nicht in Frage. Es ging hier nicht darum, daß wir Opfer der faschistischen Propaganda geworden wären. Es ging einfach um Erfahrungen, zum Beispiel um das Schicksal unserer gefangengenommenen Vorausabteilungen. Der Krieg war grauenhaft - nicht nur von unserer Seite aus. Mich wundert überhaupt, Kollege Kuby, wo sie während des Kriegs die Muße hergenommen haben, ein Tagebuch zu schreiben. Ich bin nie auf den Gedanken gekommen, wäre viel zu erschöpft gewesen. Ich hab‘ mich auch nicht so wichtig genommen.
Kuby: Es ging nicht ums Sichwichtignehmen. Wenn ich das Tagebuch nicht geschrieben hätte, wäre ich umgekommen, ich hätte es nicht durchgestanden - nachdem ich mein eigenes Volk als Mörderbande erkennen mußte. Ich brauchte diesen Rückzug, ich brauchte diese über fünf Jahre durchgehaltene Antiposition. Ansonsten wollte ich auf möglichst anständige Weise durchkommen.
Wie stark waren die Soldaten, mit denen Sie zusammenwaren, von der Über- beziehungsweise Untermenschenideologie beeinflußt, wie wirkte sich die faschistische Ideologie auf ihr tägliches Verhalten aus?
Pirker: Dazu folgende Geschichte: Ich war verantwortlich dafür, Nachschub für unsere Division an die Front zu bringen, kleinere Gruppen 60 bis 70 Mann. Wir blieben in Lemberg (Lwow) hängen, und meine Leute erhielten den Befehl, ungefähr 500 Juden zu beaufsichtigen, die bei bitterster Kälte die Flugbahn startklar machen sollten. Die Soldaten, ungefähr so alt wie ich oder noch jünger, weigerten sich. Sie sagten zu mir: „Du mußt dem Kommandanten klarmachen, daß wir keine halbverhungerten Frauen und Kinder zur Arbeit antreiben. Sag ihm, wir sind Soldaten und keine Sklaventreiber.“ Ich habe das gesagt und bin damit durchgekommen. Andererseits: Ich traf häufig auf Bauernkinder aus Bayern, die ganz offenherzig auf einen Gutshof spekulierten - „wenn die Ukraine uns gehören wird“. Wenn man als Soldat Südrußland durchquerte, konnte einem unmöglich verborgen bleiben, was mit der jüdischen Bevölkerung geschah. Einer der Hauptgründe, warum ich nach 45 in die Publizistik gegangen bin, war, dieser millionenfachen Lüge entgegenzutreten, man hätte nichts gewußt und nichts wissen können.
Kuby: Für die Übermenschen ideologie folgende bezeichnende Episode: Ich hatte Wache auf einer Schreibstube in Demidow, einem kleinen Nest in der Sowjetunion. Das Dorf war von der russischen Front eingeschlossen, Doppelstreifen patrouillierten nachts. Einer der Soldaten auf Streife ließ den ukrainischen Hilfspolizisten in der Kälte stehen, kam in die Stube und sagte: „Na ja, morgen ist wieder Schlachtfest.“ Als ich fragte: „Was meinst du?“, antwortete er: „Na ja, morgen bringen wir wieder Juden um.“ „Ihr bringt die Juden um, aber warum Schlachtfest? Der Mann war Gastwirt aus Saarbrücken, die Franzosen hatten ihm sein Tafelsilber beschlagnahmt. „Aber die Juden haben dir doch nichts geklaut“ - das war das Äußerste, was ich vorbrachte. Hätte ich gesagt, ihr wollt ein Schlachtfest abhalten, ihr elenden Dreckschweine, wäre die Sache für mich gelaufen gewesen. Das wollte ich nicht. Ich war alles andere als ein Held.
Übrigens wurde der Krieg auf eine merkwürdig systematische Art und Weise verloren. Die Feldpost funktionierte bis 1945. Im Winter 43/44, als ich noch in Rußland war, bekam ich sogar die Wochenausgabe der 'Frankfurter Zeitung‘ - wenn auch mit Verspätung. Ich schrieb damals, Germania ist nicht aus Stahl, sondern aus brauner Pappe. Der große Kampfgeist war hin, aber es blieb die Überzeugung, Niederlage und Rückzug seien bloß Episoden. Damals dachte ich mir, was müssen Napoleons deutsche Hilfstruppen 1813 doch für intelligente Burschen gewesen sein. Sie wußten wenigstens, daß es vorbei war. Nur unsere Trottel wollten es nicht wahrhaben.
Pirker: Wir beide waren wirklich in zwei verschiedenen Kriegen. Als ich mit Nachschub im Kessel von Demjansk eintraf, fragte ich den Major, wo die HKL (Hauptkampflinie) liegt. Er beschrieb einen Kreis in der Luft: Da liegt sie, Pirker. Wir hatten überhaupt nichts mehr, die 'Frankfurter Zeitung‘ schon gar nicht. Uns blieb nur eins - die Umzingelung zu durchbrechen. Ich glaube, kein einziger unter den Fliegern, Fallschirmjägern oder Bodentruppen hatte irgendwelche Vorstellungen, daß dieser Kessel nur eine Episode sei. Wir hatten nur einen Gedanken: Wir müssen raus!
Herr Kuby, bitte nehmen auch Sie noch Stellung zu der Frage der Desertion.
Kuby: Wenn ich ehrlich sein soll, war es nicht nur die Schwierigkeit, sich abzusetzen, oder die Sorge um die Familie, die mich von der Desertion abhielt. Ich wollte das Ende sehen, ich wollte sehen, wie die Deutschen auf dem Boden liegen. Als ich durch das zerstörte München ging, das ich doch aus der Zeit vor dem Krieg wirklich liebgewonnen hatte, überfiel mich ein ungeheures Hochgefühl. Ich sagte mir, Gott sei Dank hat dieses Gesindel die richtige Quittung erhalten. Sie können sich schwer vorstellen, wie elend und verkommen der Rückzug der deutschen Truppen war. Sie haben nachts die Pferde von unserem Wagen abgespannt. Schließlich habe ich mit dem Halfter in der Hand geschlafen.
Pirker: Als ich nach meiner dritten Verwundung nach München zurückkam, und die - damals noch nicht so massiven Zerstörungen sah, habe ich sehr gelitten. Ich war und bin Patriot. Je sozialistischer ich geworden bin, desto patriotischer wurde ich. Man kann sich aus dem Schicksal seines Volkes und der Klasse, aus der man kommt, nicht herauslösen. Die Niederlage von 45 war für mich kein Ereignis, das ich als den Beginn einer neuen Freiheit gefeiert hätte. Allerdings sah ich die Chance eines Neubeginns.
Kuby: Auch ich gehörte zu den Idioten, die glaubten, nach 1945 gäbe es eine offene Situation. Wir meinten, mit moralischen Haltungen und mit Argumenten die Macht beeinflussen zu können, was schon damals Blödsinn war. Man wird uns aber hoffentlich nachträglich eine gewisse Gutgläubigkeit attestieren.
Herr Kuby, ich sehe in ihrem Argument einen Widerspruch. Wenn Sie die deutsche Bevölkerung so beurteilt hatten, wie Sie es eben schilderten, woher nahmen Sie dann die Hoffnung auf einen Neubeginn?
Kuby: Dieser Widerspruch ist natürlich vorhanden. Einerseits hielt ich Deutschland für einen Scheißhaufen, andererseits glaubte ich, wir könnten alles vergessen und etwas Neues versuchen. Die Intellektuellen pflegen sich immer über ihre Wirkungsmöglichkeiten zu täuschen. Heute glaube ich, daß eine Kommunikation mit den an die Macht gespülten Dummköpfen unmöglich ist.
Pirker: Zwischen uns gibt es einen Erfahrungsunterschied Sie hatten bei Kriegsausbruch viel mehr erlebt als ich -, aber auch einen Klassenunterschied. Ich habe mich nie so mit den Intellektuellen identifiziert. Machte zwar auch eine Zeitschrift wie Sie. Kollege Kuby, aber das war für uns sekundär. Wichtig war die Organisation und der politische Kampf. Meine Freunde und ich sind sofort in die Gewerkschaft eingetreten, sind Funktionäre geworden. Wenn man etwas erreichen will, muß man sich einmischen, nicht nur und nicht in erster Linie als Publizist - und zwar egal, wie inkompetent und arrogant die classe politique auch sein mag.
Heute überwiegt, denke ich, die Angst vor „inneren“ ökologischen, atomaren oder gesellschaftlichen Katastrophen die Kriegsangst. Betrachten Sie ihre Kriegserlebnisse als ein abgeschlossenes Kapitel? Sprechen Sie noch mit jungen Leuten über den Krieg? Halten Sie ihre Erfahrungen für vermittelbar?
Kuby: Für mich gibt es Konstanten, die die deutsche Geschichte bis heute bestimmen. Die Eliten, die Machtstrukturen. Der Krieg ist wichtiger Bestandteil meines Lebens, aber er ist mir nicht gewärtig. Die Bedrohung aus dem Osten kann heute nicht mehr als Staatsideologie herhalten. - Was tun? Wie kann man dieses Volk wieder an einer Wand ohne Fenster hochjagen? Für Abenteuer nach außen gibt es Grenzen. Gott sei Dank gibt es die deutsche Teilung, und nach Warschau kann die Armee der BRD auch nicht mehr durchrauschen. Also wird sich die Frustration mit dem Status quo nach innen wenden. Wir werden den totalen Überwachungsstaat bekommen. Es wird weiter Wohlstand herrschen - aber von Freiheit keine Spur. Wird alles aufgefressen.
Pirker: Wenn man in jungen Jahren drei Mal verwundet worden ist, trägt man Traumata davon. Für mich ist das keine psychische Sache, sondern eine physische. Jedesmal, wenn ich eine Treppe hinauf- oder hinuntergehe, weiß ich, das ist der Krieg. Der Krieg ist für mich nicht vergangen, manchmal nimmt das geradezu komische Züge an. Meine Frau sagt ab und zu zu mir: „Theo, du kommst mir vor wie ein napoleonischer Grenadier, der 1847“ - man beachte das Datum - „immer noch von den Schlachten der napoleonischen Ära erzählt.“ Ich kann nicht damit aufhören. Viele meiner Phantasien sind vom Krieg geprägt - und Krieg ist Vernichtung. Genau wie Kuby gehörte ich nicht zu den eleganten Verdrängern, die nach 45 in allen Parteien Karriere gemacht haben. Im Gegensatz zu ihm schätze ich es außerordentlich hoch ein, daß es den Leuten heute besser geht, schließlich bin ich Gewerkschafter. Was mir heute Sorgen macht, ist die Auflösung der Blöcke. Zuviel schlechte Traditionen können wieder hochkommen. Auch bei den Grünen, überall.
Da bin ich ganz anderer Meinung, aber die ist hier ja nicht gefragt. Ich danke Ihnen beiden für das Gespräch.
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