Obdachlos, nichtseßhaft - ein Problem für die Statistik

■ Mehr als 1.500 Menschen sind in Bremen jährlich auf der Durchreise / 14 Mark täglich für den größten Hunger

Manchmal sind es nur fünf, die sich ihre Essensmarken in der Nichtseßhaftenhilfe abholen. Meistens sind es jedoch bis zu 25 Menschen, zum größten Teil Männer, die die Martinistraße 28 anlaufen. Die Scheine entsprechen 14 Mark in barer Münze, die man entweder in listenmäßig ausgewiesenen Lebensmittelläden, Kaufhäusern, Kneipen und Imbißbuden oder aber auch in der ZBS, der „Zentralen Beratungsstelle für alleinstehende Wohnungslose“ einlösen kann.

14 Mark - das ist (hochgerechnet) der tägliche Anteil am Warenkorb, der Regelsatz und Lebensstandard von Sozialhilfeempfängern bestimmt: Ernährung, Körperpflege, Instandhaltung und Reinigung von Kleidung und Hausrat, aber auch „persönliche Dinge des täglichen Bedarfs“ wie ein Päckchen Tabak oder die berühmte halbe Kinokarte im Monat.

In den Genuß dieser Wertscheine oder „Essensmarken“ gelangen all diejenigen, die „sporadisch auf der Durchreise von irgendwo nach nirgendwo“ in Bremen gelandet sind. Das waren 1988, soweit die Statistik dies überhaupt erfassen kann, immerhin 1.537 Menschen. Längst nicht alle halten sich ein oder zwei Tage in Bremen auf: manche sind auch einfach nur in die Phase vor oder nach dem „Jakobushaus“ gerutscht. BS und Sozialamt treffen ihre „Schützlinge“ in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen wieder.

„Nichtseßhaft“ ist auch ein vereinfachender Sammelbegriff für all jene, die in der Bremer Verwaltung mittlerweile als „alleinstehende Wohnungslose mit besonderen sozialen Schwierigkeiten“ erfaßt und meist nur noch in Statistiken durch das Haushaltsjahr geschleppt werden: Leute, die in Bremen zwar „ansässig“, und d.h. polizeilich gemeldet (und damit für Einwohnerzahl und Länderfinanzausgleich wichtig) sind, aber dennoch in „ungesicherten Verhältnissen leben“: Untergeschlüpft

bei Freunden oder Bekannten können sie „normale“ Sozialhilfe -oder Arbeitslosenleistungen beziehen; dies dann per Scheck und für einen längeren Zeitraum - auch wenn der dann niedriger ist als die Essensmarken für die gleiche Zeit. Kein Anreiz zum Bleiben also.

„Nichtseßhaftigkeit ist in erster Linie ein materielles Problem,“ stellt ZBS-Chef Johannes Wicke fest. „Zur Beseitigung von Armut ist zuallererst die Bereitstellung von Wohnung und etwas zu Essen notwendig.“ Auf der

Wunschliste ganz oben steht bei den Betroffenen ganz eindeutig die „eigene Bude“. Doch da ist nicht erst seit dem massiven Zustrom aus Osten der Markt für Leute mit „besonderen sozialen Problemen“ dicht: 1988 konnte die ZBS ganze 86 Zimmer vermitteln - an Nichtseßhafte, ehemalige Drogen- oder Straffällige. Im Kampf um die billigen Kleinwohnungen unterliegen die Benachteiligten: Das Sozialamt zahlt bekanntlich lieber 19.50 Mark pro Tag für Pensionen und Hotels mit zweifelhaften Standards oder den

viermonatigen Platz im Übergangsheim mit einem Tagessatz von 70,60 Mark, als daß der Höchstbetrag von DM 350 Monatsmiete um mehr als 20 Prozent überschritten wird.

Seit Jahren wendet das Land Bremen 1,5 bis 1,9 Millionen Mark pro Jahr auf, um „Wohnungslosigkeit“ durch Mietrückstände abzuwenden - in Form von immer weniger Darlehen und immer mehr Beihilfen. Im selben Zeitraum (seit 1983) gingen die Räumungsklagen an die sozialen Dienste um 30 % auf 1.689 zu

rück: „Ein sicheres Indiz für die zunehmende Entrechtung dieser Leute“, interpretiert der Grünen-Sozialexperte Horst Frehe entsprechende Auskünfte des Senats. „Statt zur Wohnung bringen diese Sozialschwachen es höchstens zum möblierten Zimmer“ meint er. „Ein möbliertes Zimmer lädt nicht zum Bleiben ein“ beschreibt ein ZBS-Mitarbeiter überdies den Knackpunkt.

Von Wohnungslosigkeit bedroht und damit gesetzlich registrierter „Wohnungsnotstand“ waren im vergangenen Jahr 3.475 Fälle. Für 1989 werden mit 5.000 gerechnet. Einige davon müssen die gemeinnützigen Wohnungsunternehmen per bremischem Spezialvertrag („um Kumulationen sozialer Probleme zu vermeiden“) übernehmen. Für andere regelt das Obdachlosenpolizeirecht per Einweisung das Problem. Die Grünen erfuhren in ihrer Obdachlosen-Anfrage vom Senat: 1988 hat das Amt für Soziale Dienste 594 Wohnungen vergeben. Allerdings nur 35 über „echte Vermittlung“, die restlichen 559 sind dem Bremischen Polizeigesetz zu verdanken.

Die „Wohnbedarfsanalyse für ausgewählte Zielgruppen der Sozialbehörde Bremen“ stellt abschließend fest: „daß der Wohnungsmarkt eine Bedarfsdeckung als Marktprozeß wenig aussichtsreich erscheinen läßt. Folglich wird die Sozialpolitik aufgefordert sein, hier die Initiative zu ergreifen“ - auch um Folgekosten zu sparen.