Eine kleine Tür...

■ ...damit Pavarotti nicht reinkommt / Ein Interview mit Gerard Mortier, dem Karajan-Nachfolger in Salzburg

Frieder Reininghaus

Gerard Mortier: Ich denke, es gibt wirklich keine Rezepte nichts, was einfach auf ein anderes Opernhaus übertragen werden könnte. Wir haben hier in Brüssel eine Equipe, eine Gruppe von Leuten zusammengebracht, die sich entschieden hatte, sehr idealistisch - man wagt das Wort kaum mehr zu gebrauchen - an die Sache heranzugehen. Leute, die einen großen Glauben an die Möglichkeit der Kommunikation mit der Kunstform Oper in unserer Zeit haben. Denn sie ist als Kunstgattung in einer Zeit der Technologie, Technokratie, Rationalität - die zugleich ein erhebliches Bedürfnis nach Irrationalität und Spiritualität entwickelt - für diese Möglichkeit hochgradig geeignet. Die Oper, die aus wissenschaftlichem Suchen entstanden ist, führte enorm in die Bezirke des Irrationalen - und vielleicht kann sie deshalb jetzt verlorengegangene Bindungen wiederherstellen.

Wir wollen zuallererst Komponisten und ihren Werken konsequent dienen. Daher machen wir eine sehr gezielte Programmgestaltung, wobei viele Komponisten nicht berücksichtigt werden, zum Beispiel die meisten Franzosen. Für mich ist in Frankreich, außer von Berlioz und Debussy, sehr wenig Erstklassiges komponiert worden - und nicht nur für mich.

Frieder Reininghaus: Auch nicht im 18.Jahrhundert?

Ich meine im 19.Jahrhundert! Ich spreche auch nicht über Bizet. Man könnte sagen, daß man in Brüssel viel Massenet spielen mußte. Aber wir möchten nur Stücke ansetzen, an die wir selbst ganz und gar glauben. Deshalb haben wir zentral Mozart angesteuert, denn der ist für das gesamte Opernschaffen zentral; dann Verdi und Wagner, die das ganze Jahrhundert der großen Oper vertreten.

Zweitens: Die Interpretation der Oper ist fortdauernd ein großes und immer wieder neues Problem - sie wird vor allem in neuen Inszenierungen gesucht. Es ist für mein Gefühl sehr schwierig, erst einmal einen guten Rigoletto zu machen das Stück wartet noch immer auf seine Interpretation, obwohl eine Rigoletto-Inszenierung nach der anderen irgendwo herauskommt. Es hat dabei schon einige Ansätze gegeben, aber es ist sehr schwierig.

Zentral bleibt die Musik in der Oper. Wir haben nicht nur auf dem Gebiet der Inszenierung exemplarische Versuche unternommen. Zum Beispiel auf die Ausarbeitung der Rezitative bei Mozart haben wir alle erdenkliche Mühe verwandt. Das wird manchmal vielleicht unterschätzt. In den meisten Fällen werden Neuinszenierungen nicht zusammen mit dem Dirigenten entwickelt - hier in Brüssel ist das grundsätzlich anders. Das Besondere an Sylvain Cambreling ist, daß er beispielsweise für Mozarts Lucio Silla, den wir mit Chereau gemacht haben, oder für die Zauberflöte mit Karl-Ernst Herrmann drei Monate alle anderen Engagements zurückstellt oder absagt, um kontinuierlich mit Sängern und mit dem Regisseur zu arbeiten. Er könnte in diesen drei Monaten sehr viel Geld verdienen - aber die Arbeit im Haus interessiert ihn mehr. Gerade hat Cambreling eine Produktion von Mozarts La clemenza di Tito an der Wiener Staatsoper abgesagt, weil Karl-Ernst Herrmann dort nicht auftreten kann: Er hat solange mit diesme Bühnenbildner und Regisseur gearbeitet, daß er jetzt nicht so leicht mit einem anderen sein Konzept verwirklichen kann. Zum Beispiel Nikolaus Harnoncourt, den ich wirklich für einen tollen Dirigenten halte, verstehe ich nicht; er, der in musikalischer Hinsicht so dogmatisch und kategorisch ist, macht Mozart mit den unterschiedlichsten Regisseuren. Man wechselt doch nicht von einem avantgardistischen Regisseur zu einem sehr „klassischen“! Jean-Pierre Ponnelles Inszenierungen beispielsweise waren diametral entgegengesetzt zu dem, was sich Harnoncourt bei diesen Stücken denkt. Solche Punkte werden nicht angesprochen, aber sie sind schlimm für den Opernbetrieb.

Wir versuchen jedenfalls, auch in dieser Hinsicht eine konsequente Arbeit zu machen, die allerdings nicht immer gelingt. Aber jedenfalls sind Konsequenzen und Ernsthaftigkeit vorhanden - nicht im trüben Sinn, sondern eine professionelle, ehrliche Ernsthaftigkeit. Sehen sie: Beim Parsifal, den Peter Mussbach machte, haben wir nicht nur 14 Tage lang jeden Abend Bühnenschlußproben gehabt; das Ensemble setzte sich jeden Tag zusammen und diskutierte über die Inszenierung, über die musikalische Interpretation, über die Fehler. Wo gibt es das sonst? Im Orchester gibt es keinen Schichtdienst und keinen Wechsel das ist absolut verboten. Wir haben zwar kein Orchester der Spitzenklasse, aber es spielt mitunter ebensogut. Die potentielle Qualität der deutschen Orchester ist mitunter ungeheuer, aber die Leute sind manchmal so gelangweilt. Das liegt an diesem schlimmen Repertoirebetrieb. Wie könnten wir einen Parsifal vorbereiten und abends den Wildschütz von Lortzing spielen? Man kann höchstens zwei bis drei Opern in einem Monat machen, wenn die Qualität gut sein soll.

Weder den Solisten noch dem Chor ist zuzumuten, den einen Abend Meistersinger zu machen, am nächsten Rossinis Barbier, dann ein Stück von Berie und am darauffolgenden Tag eine wunderbare Zauberflöte! Dazu kommt, daß die Stücke ja nicht nur in guten Interpretationen hintereinander kommen - es gibt dazwischen viele blöde.

Und dann denken Sie mal an die provinzielle Mentalität in vielen deutschen Opernhäusern! In Essen haben sie für 35.000 Mark pro Abend den Jose Carreras eingeladen, ehe er krank wurde - und das nennen sie dann „Weltstadttheater“. Sie glauben, sie hätten kein gutes Haus, wenn der Pavarotti nicht zweimal im Jahr singt - wie in Hamburg. Also in Brüssel singt der Pavarotti nicht! Sie haben gesehen, wie klein meine Tür ist. Die haben sie so schmal gemacht, damit er nicht hereinkommt. Darüber bin ich froh - denn es hat nichts mit der Größe eines Hauses zu tun, wenn es sich mit solchen Namen schmückt.

Man muß Oper betreiben in einer Stadt, in der wirklich kulturelle Bewegung ist.

Welche der deutschen Städte könnte Sie reizen, wenn die Bedingungen des Musiktheaters entsprechend ausgerichtet würden?

Ich habe in verschiedenen deutschen Städten gelebt, Frankfurt interessiert mich am meisten - auch Berlin. Aber ich finde, die Deutsche Oper Berlin ist ein schreckliches Theater - und das „Theater des Westens“ eine Varietebühne. Das Hebbel-Theater würde sich für die Mozart-Opern vorzüglich eignen. Hamburg finde ich langweilig - und Düsseldorf noch langweiliger.

Stuttgart ist reich...

...und hat ein wunderschönes Opernhaus! Aber ich würde nicht von Brüssel, einer zentralen Stadt, nach Stuttgart wechseln - auch wenn es dort viel mehr Geld gibt.

Und Paris?

Dort habe ich ja eine Zeitlang mitgearbeitet, sehr hart. Ich fand das Projekt der Bastille-Oper fantastisch - den Saal mit der beweglichen Einrichtung; aber es ist mittlerweile durch die Personaldiskussion und den politischen Heckmeck total verkommen. Durch meine freimütigen Äußerungen habe ich mir in Paris alle Türen zugeschlagen, aber das ist nicht schlimm. Da geht es fürchterlich provinziell zu. Wien interessiert mich auch nicht.

Wollen Sie hier in Belgien seßhaft bleiben?

Ich habe sehr große Probleme mit der Seßhaftigkeit - daß man sich selbst genügt, ist eine der schlimmsten Sachen für einen Operndirektor. Ich finde es nötig, zu wechseln, damit auch die Häuser neue Ideen bekommen. Wir studieren, machen bestimmte Erfahrungen, laden uns auf wie eine Batterie - und dann laufen wir leer. Deshalb müssen wir uns gelegentlich wieder mit neuen Ideen auffüllen. Ich will unbedingt ein Sabbatjahr haben, wenn mein Vertrag hier in Brüssel ausläuft, und kein drittes Mandat akzeptieren. Das ist 1993

-aber ich weiß nicht, ob ich den Mut behalte, denn gerade da beginnt eine neue Phase der europäischen Einigung, und Brüssel entwickelt sich sehr zur Europastadt.

Was wollen Sie dann machen? Bücher schreiben? Filme drehen?

Das ist nicht mein Metier! Ich bin von der Ausbildung her Jurist, Rechtsanwalt, habe diesen Beruf nie ausgeübt. Persönlich interessiert bin ich vor allem an europäischer Geschichte, am Vergleich unserer Zivilisation mit anderen. Die Oper - anders als der Film - ist eine wirklich europäische Kunstform geblieben. Deshalb bin ich durch mein Metier sehr mit der europäischen Zivilisation verbunden und ich würde gerne an einem Plaz eine Rolle spielen, wo ich an der europäischen Union mitarbeiten kann. Die kann nur dann stattfinden, wenn die Kultur als Boden dafür betrachtet wird.

(Hinter vorgehaltener Hand ergänzte Mortier schließlich, daß ihn ein wirklich schönes altes italienisches Theater ernsthaft interessiere - oder Bayreuth.)

Eine weitere Aufgabe sehe ich hinsichtlich der Festspiele: Über die muß wohl grundsätzlich neu nachgedacht werden, weil sie inzwischen so sehr kommerzialisiert sind. Ursprünglich aber waren sie gedacht, die europäische Zivilisation darzustellen. Vielleicht bieten die Großstädte heute bessere Chancen zu Festspielen als die traditionellen Pilgerorte. Aber ich komme zur Zeit nicht dazu, große Pläne zu machen. Mich interessiert im Augenblick noch, wie wir hier in Brüssel eine möglichst optimale Arbeit zuwege bringen.

Nachsatz: Nun aber muß Gerard Motier doch große Pläne schmieden. Das Mozart-Jubeljahr wird noch ohne sein neues, ernsthaft an den Werken orientiertes Konzept über die Bühne gehen. Und dann bleibt abzuwarten, wieweit Mortier seine ästhetischen Positionen im Bermudadreieck von Kommerz, Repräsentationsgelüsten und Konservatismus wird durchsetzen können. Salzburg liegt, lieblich lächelnd, zwischen harten, hohen Felsen und einem reißenden Gebirgsfluß.