„Keine Wut, sondern Trauer über die DDR“

■ Eine junge Frau verläßt die DDR: „Ich wollte dem Kreislauf vom Kindergarten bis zum Kinderkriegen entkommen“ / Das Warenangebot im Westen erscheint als Chance, die eigene Persönlichkeit und Individualität zu entwickeln / Sehnsucht nach Frankreich und Paris

taz: Silke, du warst kaum volljährig, als du deinen Ausreiseantrag stelltest. Was hat dich zu diesem endgültigen Schritt veranlaßt?

Silke: Schon während meiner Schulzeit, auf dem alternativen Hof, bin ich mit diesen Gedanken konfrontiert worden. Unter Jugendlichen wird ständig darüber geredet, ob man weggeht oder dableibt. Mich hat die Kleinstadt eingeengt. Da gab es keine Möglichkeit, abends mal weggehen zu können. Es gab keine Kneipe und Kino nur zweimal in der Woche, und die nächste größere Stadt hatte auch kaum mehr zu bieten. Außerdem ist dort der Gartenzaun an die Mauer gestoßen. Das hat mich immer fertig gemacht und in meinen Träumen verfolgt. Ich bin nachts aufgewacht, weil ich geträumt hatte, die Mauer sei eingestürzt. Jede Straße führte auf die Mauer. Ich wollte dahin, wo ich sie nicht mehr so nah erleben mußte. Ich bin dann nach Berlin gezogen.

Um der Mauer zu entkommen, war Ost-Berlin aber kaum die richtige Stadt.

(Silke lacht): Na, in Ost-Berlin war für mich die Mauer wegen der vielen Häuser nicht so sichtbar. Außerdem waren dort die Möglichkeiten größer, auch kulturell was zu erleben. Da verschwindet die Mauer. Aber dann sind die Beweggründe andere geworden. Ich durfte nicht mehr reisen. Einerseits, weil ich den Antrag gestellt hatte, und andererseits, weil ich mich kirchlich engagiert habe, zu Veranstaltungen gegangen bin, die vom Staat nicht gern gesehen wurden. Ich bin dabei öfter angehalten und aufgeschrieben worden.

Ich habe durch die Kirche viele Jugendliche aus dem Westen kennengelernt. Und wir haben uns oft über die Vorzüge und Nachteile in der DDR und im Westen unterhalten und uns auch oft darüber gestritten. Langsam hat sich ein Bild aufgebaut. Irgendwann habe ich nur noch Vorzüge im Westen gesehen, und da ist die Frage aufgetaucht, warum bleibe ich eigentlich in der DDR? Ich war so verzweifelt, daß ich mir alle Vorteile und Nachteile vom Westen und von der DDR auf einen Zettel geschrieben und den an den Spiegel gehängt habe. Jeden Tag, wenn ich daran vorbeiging, habe ich das durchgelesen und gegrübelt.

Was stand auf dem Zettel?

Als Vorzüge in der DDR stand: gesicherte Berufsausbildung, gesicherter Arbeitsplatz, ein gewisser Wohlstand, daß ich immer genug zu essen habe, ausreichende medizinische Versorgung und irgendwann auch mal eine eigene Wohnung. Und unter Westen stand: reisen, wohin ich möchte, kulturelle Vielfältigkeit, Individualität. Die hat natürlich viel mit dem Warenangebot zu tun, aus dem man sein eigenes Ich finden kann.

Aus dem Warenangebot?

Ja, von den Klamotten bis zur Wohnungseinrichtung. Aus dieser ganzen Fülle, die ich jetzt hier auch bestätigt finde. Natürlich waren mir auch die Nachteile klar. Im Westen, daß man sozial nicht so abgesichert ist, daß es Arbeitslose gibt, und darunter auch Leute, die obdachlos sind und Hunger haben. In der DDR das andere Spektrum: nicht reisen zu können, in allem bevormundet zu sein, in der Meinungsäußerung, in der Persönlichkeitsentwicklung. Das hat mich schon als Jugendliche fertig gemacht. Die Krönung kam in der zehnten Klasse im Staatsbürgerunterricht. Da haben wir uns einen Film angeguckt, in dem es um die Vorzüge des Sozialismus ging. Da wurde eine Frau durch die verschiedenen Stationen ihres Lebens begleitet, von ihrer Geburt über den Kindergarten, die Schule, die Lehre bis zum Kreißsaal. Das war ein richtiger Kreislauf. Unsere Lehrerin hatte leuchtende Augen und sagte, so was Tolles schafft nur der Sozialismus. Ich bin richtig fertig aus dem Unterricht rausgegangen und dachte, wenn das so ist, dann habe ich überhaupt keine Lust mehr.

Wenn was so ist?

Dieser Kreislauf. Daß alles vorbestimmt ist, daß man überhaupt nicht ausbrechen kann. Das geht alles hintereinander weg, vom Kindergarten bis zum Kinderkriegen. Man hat keine Erholungspause, man kann sich nicht die Welt angucken, man kann sich nicht selbst ausprobieren. Das hat mich völlig schockiert. Und vor mir stand die gleiche Perspektive: Lehre fertig machen, arbeiten und dann Familie gründen. Ich dachte, das kann nicht das Leben sein. Wenn ich tatsächlich nur einmal lebe, dann möchte ich mehr sehen als die DDR, die zwar auch schön ist, aber eben nur ein ganz winziger Ausschnitt der Welt. Damals entstand auch der Entschluß: Kinder will ich niemals haben.

Warum?

Weil ich mich in diesen Kreislauf eben nicht so einfügen wollte. Von der Geburt bis zum Tod ist alles geregelt. Und da auszubrechen ist unglaublich schwer. Während meiner Lehre saß ich mit 25 Frauen in der Schule. Das waren Frauen aus einer ganz normalen Schicht. Thema Nummer eins waren Kinder, die Mehrheit der Frauen war entschlossen, nach der Lehre Kinder zu bekommen. Das hat mich so schockiert und ich habe öfters mal gefragt, ob sie denn nichts anderes mit ihrem Leben anzufangen wüßten. Aber ich bin da überall auf Unverständnis gestoßen. Die letzte Zeit in der DDR, als ich an Ausreise kaum mehr dachte und auch einen Freund hatte, da habe ich gemerkt, wie schnell man wieder in diesen vorgeschriebenen Trott reinrutscht. Ich wurde schwanger und dachte, na ja, jetzt kommt eben das Kind. Dann hatte ich aber eine Fehlgeburt. Im nachhinein erschreckt mich das. Manchmal war mir das Ziel Westen schon abhanden gekommen.

Was hast du dir dort anders vorgestellt?

Daß ich wirklich anfangen will, die Welt zu erobern, in fremde Länder fahren will, um zu gucken, wie die Leute dort leben. Gerade auch, wie die Situation der Frauen in anderen Ländern ist.

Wie haben deine Eltern, Freunde und Freundinnen auf deinen Antrag reagiert?

Zunächst habe ich es nur meiner Mutter und meinen Brüdern erzählt. Meine Mutter war total geschockt. Sie hat angefangen, Stories aus dem Westfernsehen zu erzählen, von Morden, Drogenmißbrauch, und daß die Leute unter den Brücken schlafen und alkoholabhängig sind. Meinen Freunden habe ich es ein halbes Jahr verschweigen können. Weil ich an anderen sehen konnte, die auch ausgereist sind, daß sich viel dadurch veränderte. Daß man nur noch von der Ausreise redete. Daß man nur noch negativ über die DDR sprach, es bei jeder Gelegenheit „scheiß Osten“ hieß. Ich habe keine Wut auf die DDR. Ich empfinde eher so etwas wie Traurigkeit. Es ist ein unheimlich schönes Land, mit tollen Leuten. Es ist nur traurig, daß die Leute so eingeengt und teilweise auch verdummt werden.

Haben deine Freundinnen und Freunde ihr Verhältnis zu dir verändert?

Ja, ziemlich stark. Die Freundschaften verlieren unterbewußt, weil für sie ja keine Zukunft mehr besteht. Ich habe auch gemerkt, daß viele Ausreiser nur unter sich bleiben. Das wollte ich nicht. Ich bin auch von meinen westdeutschen Freunden hart angegriffen worden. Die haben mir klar gesagt, daß den Wohlstand, den man in der BRD sieht, nur wenige Leute haben, daß es ein hartes Brot ist, sein Geld zu verdienen. Und sie haben mir erklärt, daß bei Demos auf der Straße Leute auch zusammengeschlagen werden. Zu denen habe ich dann gesagt: Laßt uns doch tauschen. Ich ziehe für euch nach West-Berlin und ihr nach Osten. Aber in die DDR wollte von denen keiner gehen. Da war die Freiheit wieder sehr wohl ein Argument. Doch hilfreich waren die Gespräche auf jeden Fall; dadurch bin ich nicht so blauäugig hierhergekommen.

Hast du dir überlegt, daß man hier auch malochen muß und sein Leben meistens nicht reisend und frei bestimmt verbringen kann?

Arbeit ist keine Frage. Aber wenn man arbeitet, bekommt man Urlaub. Es hat etwas mit dem Gefühl zu tun, daß ich weg kann, wenn ich will. Ich will natürlich soviel wie möglich machen.

Und was ist das konkret?

Als allererstes möchte ich mich in meiner Wohnung oder meinem Zimmer nach meinem Geschmack einrichten. Auch wenn sich das kitschig anhört. Ich war neulich hier in einem großen Kaufhaus in der Porzellanabteilung. Ich stand da nur und guckte. Und mir ist durch den Kopf gegangen, daß in der DDR der Geschmack vergewaltigt wird. Dort haben alle das gleiche, hier gibt es so viele Möglichkeiten, Geschmack zu entfalten. Ich werde mich selbst und meinen Stil jetzt erst entdecken. Das ist das erste, auf was ich mich freue. Als zweites möchte ich in die Kulturszene reinriechen, Musik, Nachtleben. Und sobald das mit dem Geld klappt, möchte ich losfahren, am liebsten nach Frankreich, Paris vielleicht.

Was war dein erstes Gefühl, als du rüber gekommen bist?

In der Friedrichstraße bin ich mit den Menschenmengen durch die Kontrolle. Dann bin ich bis zur Kochstraße mit der U -Bahn. Dort kam ich raus und guckte direkt auf den Checkpoint Charlie. Ich dachte, das kann nicht wahr sein. Die DDR so nah, und du stehst hier. Meine Freundinnen, die vor mir in den Westen gegangen sind, erzählten, daß alles bunt und flimmernd ist, ein ganz anderes Straßenbild - und ich stand da, und alles sah aus wie drüben. Mir kam ein saures Gefühl hoch. Det is et? Darauf hast du so lange gewartet? Da mußte ich dann schon schlucken und weinen. Ich dachte, ich habe meinen Freund und meine Freundinnen drüben gelassen, und hier ist gar nichts anders.

Und wie siehst du es jetzt, nach einer Woche?

Die Unterschiede werden jetzt schon deutlicher - das andere Lebensgefühl, das ich wollte: durch Geschäfte zu gehen und sich selbst zu beobachten, wie ich auf all das reagiere, wie ich suche, wie ich interessiert gucke. Ich habe mich auch schon ein bißchen ins Nachtleben gestürzt. Ich war in einer großen Kudamm-Disko, mit einem Bekannten. Der hat sich dort bekifft und betrunken. Der war völlig zu, und ich habe zum ersten Mal richtig Angst gekriegt. Ich fand, daß die Leute ein ganzes Stück fertiger sind als in der DDR. In Ostberliner Diskos lernt man auch schwer Leute kennen, aber hier war es doch anders, viel perfektionierter, die Leute tanzten wie Marionetten. Da dachte ich schon, mein Gott...

...es hat sich nicht gelohnt?

Nein, das nicht. Mich hat gestern jemand gefragt, ob ich wieder zurückgehen würde, wenn ich es könnte. Aber ich würde es nicht machen. Vielleicht bin ich auch noch zu kurz hier und ich denke, jetzt habe ich solange darauf gewartet, jetzt muß ich erst mal richtig gucken. Ich fühle mich in dieser Stadt überhaupt nicht fremd, obwohl ich aus einem völlig fremden Teil komme; und dann kenne ich eben hier viele Leute.

Ganz spontan: Was sind die Sachen, die dich bisher hier am meisten abgeschreckt haben. Welche haben dir am besten gefallen?

Abgeschreckt haben mich die Kiffer. Das fand ich gruselig. Am besten fand ich, vor einem Gemüsegeschäft zu stehen und zu überlegen, was ich mit all den noch unbekannten Sachen machen könnte.

Interview: Katharina Schmutz