Aids: „Die Epidemie-Lawine rollt aus“

■ Der Münchner Internist Hans Jäger berichtet über die gebremste Dynamik der Immunschwäche und neue therapeutische Teil-Erfolge im Kampf gegen die Krankheit Präventive medikamentöse Strategien sollen den Patienten schon vor Ausbruch der Krankheit helfen / Kommt eine neue Diskussion um den HIV-Test in Gang?

taz: Herr Jäger, Sie haben kürzlich auf die verbesserten Therapie-Möglichkeiten bei Aids-Kranken und vor allem bei Patienten in den Vorstadien der Immunschwäche hingewiesen. Welche neuen positiven Erfahrungen im Kampf gegen diese Krankheit haben Sie gewonnen?

Hans Jäger: Das wirklich Neue ist, daß wir mit Medikamenten jetzt sehr viel früher eingreifen. Wir können durch medikamentöse Behandlung, die als Prophylaxe zu verstehen ist, besser, das heißt über einen längeren Zeitraum verhindern, daß bestimmte schwere und lebensbedrohliche Infektionen auftreten. Das ist neu und wurde erst in den letzten Monaten durch Studien soweit abgesichert, daß wir nun mit einer Empfehlung herauskommen. Wir raten denjenigen Patienten, die sich noch wohlfühlen, deren Immunsystem aber abgeschwächt ist, zu bestimmten präventiven medikamentösen Strategien.

Um welche Medikamente handelt es sich, und welche Infekte wollen Sie damit verhindern?

Es geht im wesentlichen um zwei Medikamente. Eines ist Pentamidin, das schon früher zur Behandlung einer speziellen Form der Lungenentzündung (Pneumozystis Carinii Pneumonie1), der bei Aids häufigsten klinischen Komplikation eingesetzt wurde. Pentamidin war bisher ein Mittel zweiter Wahl. Es wurde in den Muskel oder in die Venen gespritzt, und oft traten erhebliche Nebenwirkungen auf. Jetzt lassen wir das Medikament einmal im Monat 20 Minuten inhalieren. Damit behandeln wir aber nicht nur Patienten, die bereits eine Lungenentzündung hatten, sondern wir verhindern bzw. verzögern - und das ist das eigentlich Spannende -, daß diese Komplikation bei Patienten mit geschwächtem Immunsystem überhaupt auftritt.

AZT schon dann, wenn es Patienten noch gutgeht

Das zweite Medikament ist dann wohl AZT (Azidothymidin2, Handelsname „Retrovir“)?

AZT ist bisher in der Bundesrepublik zur Behandlung des Vollbildes der Krankheit Aids zugelassen und im direkten Vorstadium der Krankheit, das man ARC nennt (Aids-Related Complex). Wir haben aber gesehen, daß man AZT schon früher sinnvoll einsetzen kann, nämlich bei Patienten, die sich noch wohlfühlen, die aber ein deutlich abgeschwächtes Immunsystem haben. Indikator für dieses abgeschwächte Immunsystem ist ein Absinken der T4-Zellen (Helfer-Zellen) auf unter 250. Wir geben AZT in diesem Stadium meist nicht durchgehend, sondern intermittierend: also vier Wochen Medikament und vier Wochen Pause. Das reduziert die Nebenwirkungen, zeigt aber ähnlich gute Resultate wie bei voller Medikation.

In den USA ist AZT - angeblich mit gutem Erfolg - in noch früheren Krankheitsstadien verabreicht worden, also schon bei einem nur leichten Absinken der T-4 Zellen auf unter 500. Der US-Forscher Fauci hat auf dem Immunologie -Weltkongreß in Berlin eine entsprechende Studie vorgelegt, die er als „sehr aufregend“ bezeichnete. Er berichtete auch, daß AZT in einem großen Versuch sogar bei HIV-Positiven eingesetzt wird, die keinerlei Symptome haben. Was halten Sie davon?

Ich teile diese Meinung von Fauci nicht. Die bisherigen Studien über einen sehr frühen Einsatz von AZT bei noch intaktem Immunsystem können meines Erachtens seine Aussagen nicht ausreichend belegen. Viele Studien laufen aber noch. Bei jedem frühen Einsatz von AZT muß man die Gefahr von Resistenzen gegen das Medikament berücksichtigen. Je früher man AZT einsetzt, um so größer ist die Gefahr der Entwicklung von Resistenzen.

AZT-Nebenwirkung geringer als erwartet

Fauci sagt, daß der Erfolg durch den frühen AZT-Einsatz so groß ist, daß das Resistenz-Risiko damit mehr als wettgemacht wird. Das Fortschreiten der Krankheit werde wirksam gestoppt.

Ich bleibe dabei, daß man AZT guten Gewissens erst einsetzen sollte, wenn zumindest milde Symptome vorliegen und wenn die Zahl der T4-Zellen zumindest auf einen Wert unter 400 abgesunken sind. Wir sprechen ab 250 T4-Zellen mit den Patienten über Pentamidin-Inhalationen und AZT.

Ist es nicht ungeheuer riskant, wenn innerhalb von großen Experimenten, wie jetzt in den USA, AZT mit seinen gravierenden Nebenwirkungen jetzt schon an symptomlose „Positive“ gegeben wird, die mit ihrer Infektion vielleicht noch fünf, zehn, oder mehr Jahre ohne große Probleme leben könnten?

Die Nebenwirkungen sind hier nicht das größte Problem. Sie sind häufig übertrieben worden. Es hat sich gezeigt, daß sie doch bei weniger Patienten auftreten, als anfangs befürchtet werden mußte. Es gibt sogar eine Reihe von Patienten, die AZT ganz ohne Nebenwirkungen nehmen. Viel wichtiger ist die Gefahr einer eventuellen Resistenz gegen dieses Medikament.

Wie Kitt auf Spitzen

von Stachelschweinen

Dennoch sind viele in ihrer Not bereit, AZT sehr früh zu nehmen. Ist es für Sie ein Problem, daß manche Patienten angesichts eines Gefühls von Angst und Hilflosigkeit alles nehmen, was angeboten wird und sich „auf dem Markt“ befindet?

Wir besprechen diese Dinge sehr lange mit den Patienten. Jeder Patient muß sehr genau wissen, auf was er sich einläßt. Das ist das einzig vertretbare Vorgehen. Wir mußten bei manchen Patienten mehrere Monate warten, bis sie sich dann ganz persönlich für AZT entschieden haben.

Gibt es außer den genannten noch weitere neue, hoffnungsvolle Medikamente?

In den USA wurden mit DDI und DDC zwei weitere erfolgversprechende Medikamente entwickelt. Es handelt sich um zwei mit AZT verwandte Substanzen. Hier ist die erste Phase der Erprobung bereits abgeschlossen, und es werden jetzt in Doppel-Blind-Untersuchungen eine größere Anzahl von Patienten mit diesen Medikamenten behandelt, um so die klinische Wirkung festzustellen. Interessant daran ist, daß man die Resistenzen gegen AZT mit diesen Substanzen, die auch sogenannte Nukleosid-Analoge sind, auffangen könnte.

Dies alles sind Medikamente, die das für die Vermehrung zuständige Enzym von HIV blocken und so die Virus-Lawine stoppen sollen?

Das ist richtig. Ein etwas anderer Ansatz ist der Einsatz von löslichem T4. Die Amerikaner sagen, T4 wirkt, wie wenn man einem Stachelschwein Kitt auf die Stacheln klebt. Man blockiert mit löslichem T4 den Weg zur Virus-Vermehrung.

HIV wird auf die falsche Fährte gelockt

Können Sie unseren Lesern erklären, wie das funktioniert?

Die T4-Zellen sind zentrale Steuerzellen unseres Immunsystems. Sie heißen T4-Zellen, weil sie bestimmte Rezeptoren besitzen. Man muß sich diese Rezeptoren wie ein Schlüsselloch vorstellen. Nur wer den dazu passenden Schlüssel hat, kommt in die Zelle hinein. An diese Rezeptoren dockt sich HIV an und dringt dann in die Zelle ein, um sich dort zu vermehren. Wenn man jetzt künstliche T4 -Rezeptoren als „Köder“ gibt - das sieht man im Reagenzglas sehr schön - wird das Virus „abgelenkt“ und das Andocken wird unterdrückt. HIV wird also auf die falsche Fährte gelockt oder man könnte auch sagen, der Schlüssel paßt zwar, aber die Türe ist verschlossen. Auf diese Weise wird die Virus-Vermehrung blockiert, denn das Virus muß ja zur Vermehrung in die fremde Wirtszelle eindringen.

Das hört sich gut an. Welche Hoffnungen auf eine wirksame Therapie darf man sich hier machen?

All diese Medikamente sind gerade von der ersten in die zweite Phase der Erprobung gegangen, und es ist sicher noch zu früh, um hier allzu große Hoffnungen zu wecken. Aber wenn die Forschung in den nächsten Jahren in diesem Tempo weitergeht, dann werden wir den Aids-Patienten in ein oder zwei Jahren noch besser helfen können.

Um besser helfen zu können, haben Sie jetzt auch dazu aufgefordert, daß die Leute zum Test gehen sollen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wollen Sie erreichen, daß denjenigen, die „positiv“ sind, dann frühzeitig durch präventive Maßnahmen vor Ausbruch der Krankheit medikamentös geholfen wird. Sie waren bisher sehr test-kritisch. Wie kam es zu diesem Sinneswandel?

Hintergrund dieser Empfehlung sind auch die Erfahrungen in unserer Klinik. Gerade in letzter Zeit sind Patienten mit sehr schweren Primär-Erkrankungen zu uns gekommen, die sich bisher noch nirgends vorgestellt hatten. Darunter waren auch Fälle von Lungenentzündungen, und ich hatte dabei das Gefühl, daß es nicht zu diesen schweren Erkrankungen gekommen wäre, wenn wir diese Patienten früher hätten betreuen können. Das zweite ist die Empfehlung der sehr test -kritischen amerikanischen Kliniker. Sie haben im Juni eine massive Test-Empfehlung für die Hauptbetroffenen-Gruppen ausgesprochen, um zu verhindern, daß Menschen, die nicht wissen, daß ihr Immunsystem geschwächt ist, in schwere Infektionen hineingeraten und um zu einem möglichst frühen Zeitpunkt therapeutisch eingreifen zu können. Dem haben sich inzwischen auch wichtige amerikanische Selbsthilfegruppen, wie zum Beispiel Gay-Men-Health-Crisis angeschlossen.

Zwei entscheidende Fragen vor Aids-Test

Können Sie ihre Test-Empehlung aufrecht erhalten, wenn sie gleichzeitig berücksichtigen, daß manche positiv Getestete sehr viel schneller Aids kriegen als nicht getestete Infizierte. Das Wissen um den eigenen HIV-Status kann ja Menschen vollkommen aus der Bahn werfen. Er bedeutet einen ungeheuren Streß, der wiederum das Immunsystem schwächt. Nicht zum Test gehen und von Aids nichts wissen wollen ist zusammen mit safe-sex - ja auch eine zulässige und vielleicht auch zuträgliche Form der Bewältigung dieser Bedrohung?

Es gibt sicher wenig Arbeitsgruppen in der Bundesrepublik, die sich so intensiv mit den psycho-sozialen Folgen des Tests beschäftigt haben wie wir in Schwabing. Natürlich kennen wir Patienten, die durch die Kenntnis ihres Testes in eine psychisch sehr sehr schwierige Situation hineingeraten sind. Die meisten Patienten haben es allerdings geschafft, wieder „normal“ zu leben, ohne sich von der HIV-Infektion erschlagen zu lassen. Hier ist allerdings intensive Beratung und Betreuung und manchmal auch psycho-therapeutische Hilfe nötig.

Das heißt aber, daß jeder einzelne nach wie vor selbst aus seiner Situation heraus entscheiden muß, ob er zum Test gehen will und daß man niemanden zum Test treiben darf.

Die Test-Entscheidung muß eine individuelle Entscheidung sein, und jeder sollte vorher die zwei zentralen Fragen beantwortet haben: Wie würde ich reagieren, wenn ich positiv bin, und mit wem kann ich darüber reden. Wenn diese beiden Fragen nicht zufriedenstellend beantwortet sind, sollte man nicht zum Test gehen. Ich bin nach wie vor testkritisch, aber ich plädiere dafür, die Frage der medizinischen Prophylaxe stärker zu berücksichtigen. Man kann heute bei einer Reihe von Patienten therapeutische Konsequenzen nach einem Test ziehen, und das war früher nicht möglich.

Zu wenig Ambulanzräume - herbes Problem

Die Ärzte haben in den letzten Jahren viele Erfahrungen, eigentlich schon Routine im Umgang mit Aids entwickelt. Hat dies zur Entmystifizierung der Krankheit beigetragen?

Was am Anfang als eine Gesundheitskatastrophe empfunden wurde, hat sich bisher nicht zu dieser Katastrophe entwickelt. Wir haben es mit einer sehr schweren Krankheit zu tun, aber sie ist inzwischen behandelbar, und es gibt auch prophylaktische Interventionsmöglichkeiten. Aus der Katastrophe ist Normalität und Routine geworden. Und Routine hat ja auch immer etwas Beruhigendes und ein Stück Sicherheit an sich. Vorübergehend und gerade am Anfang wird allerdings die Mitteilung eines positiven Testergebnisses von vielen Patienten nach wie vor als katastrophal empfunden.

Welches sind für Sie gegenwärtig die größten Probleme in der Versorgung und Betreuung von Patienten mit HIV und Aids?

In den meisten Stationen und Ambulanzen mit Aids-Patienten sind die Ausstattungen personell knapp ausreichend, aber die räumliche Situation ist dort, wo viele Patienten ambulant behandelt werden, ein herbes Problem und an vielen Stellen katastrophal. Der Trend, den wir jetzt verfolgen, heißt: Kompetenz verstärkt an die Hausärzte zurückgeben. Eine dezentrale Versorgung, das hat sich gezeigt, ist das bessere Modell gegenüber zu großen ambulanten Zentren. Diese Rückverlagerung der Kompetenz an die Hausärzte und die Einsicht, daß mehr als 80 Prozent aller Fragestellungen bei Aids ambulant gelöst werden können, das sind wichtige und positive Veränderungen. Früher mußten die Patienten oft sehr lange im Krankenhaus liegen. Jetzt sind sie in fast allen Fällen ambulant behandelbar. Es sollte verstärkt auch möglich sein, getrennt von der Klinik auf hohem medizinischem Standard ambulant versorgt zu werden. Ein wichtiges Problem ist die Nachsorge, also die Rehabilitation nach einem Klinik-Aufenthalt. Einige Patienten sind zwar pflegebedürftig, müssen aber nicht unbedingt in der Klinik sein. Und in diesem Zwischenfeld fehlen in allen deutschen Großstädten die Möglichkeiten, um Patienten in einer würdigen Umgebung durch qualifizierte Leuten pflegen und betreuen zu lassen.

Keine epidemieartige Zunahme festzustellen

Glauben Sie, daß sich auch der gesellschaftliche Umgang mit Aids normalisiert hat?

Unsere Gesellschaft hat gezeigt, daß sie mit dieser Krankheit besser umgehen kann als anfangs befürchtet wurde. Dafür gibt es inzwischen viele praktische Beispiele. Nach unseren Beobachtungen ist die Angst vor den Kranken in vielen Fällen der Hilfsbereitschaft gewichen. Dies liegt sicher auch daran, daß die apokalyptischen Visionen mancher Experten eben nicht eingetreten sind. Die epidemiologische Lawine rollt aus. Es gibt zwar neue Infektionen, und wir müssen dies besser und effektiver als bisher verhindern, aber eine epidemieartige Zunahme können wir momentan nicht mehr feststellen. Deswegen können wir ruhig und mit wachsender Zuversicht mit den Aids-Patienten arbeiten, und zwar genauso wie wir dies auch bei anderen schweren Krankheiten tun.

Das klingt jetzt sehr optimistisch. Ist es für solch ein erfreuliches Fazit nicht zu früh?

Nein. Selbst in den USA sind die Neumeldungen der Krankheit pro Halbjahr etwa auf dem gleichen Stand geblieben. Wir haben in der Bundesrepublik zwar noch einen Zuwachs an Patienten, aber dies ist nicht gleichbedeutend mit einer Zunahme der Epidemie, denn diese Patienten hatten sich schon vor Jahren angesteckt. Ich möchte allerdings hinzufügen, daß die Situation in Afrika, Brasilien, der Karibik und Thailand ganz anders aussieht. Dort ist mit massiven weiteren Fall -Zunahmen zu rechnen.

Interview: Manfred Kriener

Anmerkungen:

1 Pneumozystis Carinii heißt der Parasit und Erreger dieser Lungenentzündung. Von einem intakten Immunsystem wird er normalerweise in Schach gehalten. Aber mehr als die Hälfte aller Aids-Patienten erkranken an dieser HIV-typischen Lungenentzündung.

2 Azidothymidin ist das bisher wirksamste Medikament gegen Aids. Das früher aus Heringssperma gewonnene Präparat wird heute gentechnisch hergestellt. Unglücklicherweise ist AZT aber nicht nur bei HIV wirksam, sondern wird auch in die Nukleinsäuren anderer Zellen eingebaut, was zu Störungen im normalen Zellstoffwechsel führt. Etwa 20 Prozent der AZT -Patienten, die wegen des Vollbildes der Erkrankung behandelt werden, entwickeln Anämien. In frühen Phasen des AZT-Einsatzes leiden fünf Prozent aller Patienten an diesen schweren Nebenwirkungen.