: Der Partiturenleser
■ Am Mittwoch, dem 23. August, starb der britische Psychiater Ronald D. Laing
Man muß zu heftigen Bewunderungen fähig sein und mit Liebe vielen Dingen ins Herz kriechen: sonst taugt man nicht zum Philosophen. Graue kalte Augen wissen nicht, was die Dinge werth sind; graue kalte Geister wissen nicht, was die Dinge wiegen.“
Ronald D. Laing war in diesem Sinne ein Philosoph, und Nietzsche, oben zitiert, dem die Philosophen zu wenig Psychologen sind, wurde ihm zur großen Erfahrung. „Man kann sich nie mehr in den alten Gleisen bewegen, wenn man erst Nietzsche gelesen hat“, sagte Laing in einem Interview („Wo in der Welt dürfen Irre nachts im Mondschein baden?“). Und er konnte diesen „diagnostizierenden Psychotiker“ der Philosophie inszenieren wie kaum einer. Mal melancholisch, mal halkyonisch-zynisch oder ironisch. Nie pathetisch -epigonal. So bei seinem letzten öffentlichen Auftritt in der Bundesrepublik, auf dem Kongreß „Geist und Natur“ (1988) in Hannover vor erlauchtem Publikum. In seiner Rede - es war eher ein Rock-Konzert - diagnostizierte er: Wir sind schizo -phobisch, thanato-phobisch, auto-phobisch, sprechen eine zwar elaborierte aber völlig verarmte Sprache und kultivieren uns aus der Kultur heraus, sprich wir sind immer noch Barbaren, und dann folgte mit einem listigen Augenzwinkern und einem 'Don't worry‘ der Nietzsche-Satz: „Deine Seele wird noch vor deinem Körper sterben.“
Bei unserem Gespräch am nächsten Tag war seine erste Antwort eine schneidende Nietzsche-Intervention: „Jeder Gedanke, den du denkst, treibt dich mehr in die Lüge des Gedankens.“ Stop making sense, let's talk about simple things.
Seine Rede ist in dem soeben erschienenen Sammelband zum Kongreß bezeichnenderweise nicht abgedruckt. Vielleicht hat er die Auto-Phobie, die er an uns diagnostizierte, durch die langjährige emphatische Arbeit mit seinen Patienten ein Stück weit überwunden. Vielleicht war sein Ton zu persönlich, seine Hoffnung zu „niederträchtig“ und seine trunkene Klarheit zu interventionistisch, um den guten Geschmack wissenschaftlicher Koordinatoren noch zu treffen?
Laing saß nicht mehr im Lehnstuhl, hatte schon lange nicht mehr „auf den Knopf gedrückt“, konnte, wollte nicht mehr brav sein. Er haßte die „routinemäßige, sanfte Macht“. Spätestens seit seiner Indien-Erfahrung „orient-tiert“ (Laing) er sich nicht mehr nur an wissenschaftlichen Essentials und ihren diskursiven Darstellungsformen. Sein tiefes Mißtrauen gegenüber vermeintlich objektiver Neutralität artikuliert sich schon in der „Phänomenologie der Erfahrung“ (Übers. 1969): „Die Wahl von Syntax und Vokabular ist ein politischer Akt; er definiert und umschreibt, wie 'Fakten‘ erfahren werden sollen. In einem gewissen Sinne schafft er sogar erst die Fakten, die untersucht werden.“
Laing spürte, daß es bei Informationen, sprachlichen Zeichen nicht nur um die Grammatik oder einen sachlichen Sprachtonus geht, sondern um Macht; und eine historisch gewachsene und eingespielte Machtdisposition läßt sich naturgemäß nur im Rahmen ihres Sprachtons kritisieren. Unverständliche, irritierende, femd-klingende Töne werden ausgegrenzt und, soweit sie sich nicht im Bereich der Kunst als ungefährliches Schellengeklingel abtun lassen, interniert, überwacht, für ver-rückt erklärt. Diese Macht, das ist das Beunruhigende bei der Lektüre von Laings Schriften, sitzt uns allen in den Knochen, selbst wenn wir sie kritisieren. Wie kommen wir raus? Gibt es überhaupt ein Außen, einen anderen Ton? Soll es ihn überhaupt geben? Wo stand Laing?
Laing saß in Räumen und hörte den gebrochen-zerrissenen Tönen Schizophrener zu. In seiner Autobiographie „Weisheit Wahnsinn Torheit“ beschreibt er, wie seine auf Angst gebaute Taubheit langsam abnahm und das instinktive Bedienen der Elektroschock-Apparatur zeitweilig aussetzte. „Ich bin Spezialist für Vorgänge im inneren Raum“, charakterisiert er sich in der „Phänomenologie“. Laing hatte sein Außen im inneren Raum entdeckt, seinen unverwechselbaren Eigenton durch geduldiges Partiturenlesen einer verrückten Musik. Von diesem Innen/Außen-Zustand gesehen, war ihm die Welt der Macht ein gefährlich-illusionäres Ungeheuer, eine riesige Suggestions-Maschine. „Das strukturelle Gewebe solcher sozial geteilten Halluzinationen nennen wir Realität, und unsere abgekartete Verrücktheit nennen wir geistige Gesundheit. Niemand sollte meinen, diese Verrücktheit existiere nur irgendwo am Nacht- oder Taghimmel, wo unsere Todesvögel in der Stratosphäre kreisen. Sie existiert in den Ritzen unserer intimsten und persönlichsten Momente.“ Sätze aus der „Phänomenologie“, die einen auf der Stelle ver-rückt machen könnten.?
Wieso eigentlich nicht? „Die Menschen scheinen eine fast unbegrenzte Fähigkeit zur Selbsttäuschung zu haben - zur Selbsttäuschung, die eigenen Lügen für Wahrheit zu halten“, antwortet uns Laing eine Seite davor. Mystifikation der Suggestions-Maschine und ständige Anpassungsleistungen bedingen sich gegenseitig und betrügen uns, so Laing, vor allem um unsere persönliche Erfahrungswelt. Im Stromkreis der Macht agieren wir immer als betrogene Betrüger. No way out.
Laings radikale Wendung zu sich selbst, zu seiner persönlichsten Erfahrung, die mit der camaraderie mit den Ausgegrenzten einhergeht, ist konsequent. Wirkliche Aufklärung läßt sich nur von den Rändern her denken. Wiederum fällt mir nur ein Denker ein, der, von einem verrückten Gott erleuchtet und erschüttert, so radikal auf die persönliche Erfahrung setzte: Nietzsche. Wenn man bedenkt, daß der hiesige Statthalter der Aufklärung, Jürgen Habermas, im gleichen Jahr 1969, in dem Laings „Phänomenologie“ erschien, schrieb, Nietzsche hätte uns heute nichts mehr zu sagen, dann sieht man, wie groß der Abgrund ist zwischen Aufklärung und Aufklärung. Zu Unrecht vergessen habe ich Michel Foucault, der von seiner letzten Griechenlandfahrt sehr heiße Ware in Sachen Selbstsorge und Eigen-Erfahrung mitbrachte.
Überhaupt muß man den laing'schen Erfahrungsbegriff viel tiefer, konkreter, kühner, mystischer fassen. Seine „Phänomenologie“ ist im besten Sinne existentialistisch. Er blieb auf den Seitenpfaden Nietzsches und wußte, daß beides, soziologische Durchdringung wie auch das positivistische Abheben auf Fakten, nur bedingt etwas mit „Erfahrung“ zu tun haben. Eher noch war ihm Diltheys zarte Hermeneutik ein heuristisches Modell, seine Verrückten wirklich zu bewegen.
Erfahrung -, das war für ihn Seele, Sein und das innere „Klangineinander“ der Verfluchten. Das wirkliche Erfahren und Verstehen-Wollen extremer Zustände, auf der Basis eines sich einstellenden Gefühls der Zusammengehörigkeit, brachte ihn zu einer entscheidenden Umwertung: Das Wie-man-mit -seinen-Erfahrungen-umzugehen-hat, der eingespielte Zwangzusammenhang, das war die Krankheit. Einer Krankheit, die in den noch nicht ganz zubetonierten Ichs der Pschychotiker ihre Schatten warf. Laing hörte in den porösen Seelen schon den Grundton einer Realität, jenseits der suggestiv-gefestigten und gegen jeglichen Schlag abgeschirmten Normalität: 'Rain Man‘ als die Großaufnahme unseres eh schon „sang- und klanglosen“ Subjekts.
Peter Sloterdijk hat unlängst in einem Vortrag einen schönen Begriff für eine andere Subjekt-Realität gefunden: perkussives Medium. Mit dem laing'schen Erfahrungsbegriff korrespondiert ein höchst perkussives Subjekt. Denn er kannte die Erschütterug nicht nur als gedanklichen Nachklang bei sich selbst, sondern als Zustand. Er hörte nicht nur die gebrochenen Melodien zerrissener Seelen, er hat oft mitgesungen. Sein Reflektieren auf solche underground-sounds machte ihn nüchterner, verbrannter, ja sogar wissenschaftlicher gegenüber schnellen Harmonisierungen bloßer Spekulation.
Neben der Sensibilität für die persönliche Erfahrung schärfte sich sein Ohr immer stärker für „Autorythmie“, den eigenen Rhythmus. Das bedeutete bei Laing nicht neue Lektionen der Selbstkontrolle, wie man sie gern hätte, keine Übungen im Modus des geteilten Selbst, in dem Selbstbeherrschung mit Beton-Ich korreliert, Genuß nicht ohne schlechtes Gewissen vorkommt und Kreativität nicht ohne Terror, in dem Gewalt und Moral ein Dauer-Rendezvous haben, Macht und Milde sich nie treffen.
Wer einmal die Perkussionen des Lebens erfahren hat, kann kein serviles Beifallsgesicht und keinen wissenschaftlichen Yuppie-Ernst mehr goutieren. Seine Sorge um sich selbst machte ihn schärfer, witziger, wacher und nihilistischer. Die Suche nach Leben war letztes Jahr bei ihm noch ungebrochen, seine Verzweiflung groß. „Wir haben uns schon im Kopf zerstört - in diesem Bunker - und wenn wir nicht aufpassen, dann wird uns das Unsversum ganz einfach wegblasen“, sagte er im Interview.
Auch ein Psychiater kann ein absurder Held sein.
Laing war auch ein Musiker, ein Musiker der Seele. Das Sprechen schien ihm manchmal ein heruntergekommenes Singen, „eine schal gewordenen Musik, verfault, abgestorben“. Die Musik war ihm wahrscheinlich wichtiger als jedes intellektuelle Wissen. „Sing me another song“, sagte er öfter zu mir.
Theo Roos
Die wichtigsten Bücher von Laing: Das geteilte Selbst, dtv, München 1987; Phänomenologie der Erfahrung, Suhrkamp, Frankfurt a. Main 1969; Knoten, rororo, Hamburg 1972; Es stört mich nicht, ein Mensch zu sein - Ein Gespräch mit Vincenzo Caretti, Kiepenheuer & Witsch, Darmstadt 1981, Gespräche mit meinen Kindern, rororo, Hamburg 1982; Weisheit Wahnsinn Torheit. Werdegang eines Psychiaters, Kiepenheuer & Witsch, Darmstadt 1987.
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