1939: Polen macht auch Stalin verantwortlich

Historikerdebatte in Polen über den Kriegsausbruch am 1.September: Stalin hatte Mitschuld / Nachdenken über möglichen Ausweg im Jahr 1939 / Kann man den Hitler-Stalin-Pakt für ungültig erklären, ohne die Rückgabe Lwows und Wilnas zu fordern?  ■  Aus Warschau Klaus Bachmann

„Man kann zu dem Schluß kommen“, faßt der polnische Historiker Marian Drozdowski eine von der Wochenzeitung 'Kierunki‘ („Richtungen“) veranstaltete Debatte zusammen, „daß es einen gewissen Konsens gibt, was die Verantwortlichkeit des nationalsozialistischen und des stalinistischen Totalitarismus für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges angeht. Das ist ein neues Element in der polnischen Historiographie.“ In der Tat.

Bis jetzt war es kaum möglich, solch ketzerische Ansichten öffentlich zu verbreiten. Möglich geworden ist diese beispiellose Debatte unter Polens Historikern und Publizisten vor allem durch entsprechende Äußerungen sowjetischer Vertreter. Mit der Anerkennung der Geheimklauseln des Hitler-Stalin-Paktes ist in Polen jetzt die Frage aufgetaucht, ob Stalin den Angriff auf Polen erst ermöglicht hat. Hitler, so meint der Historiker Marian Wojciechowski, wollte angreifen, aber Stalins Unterschrift habe ihm sein Vorhaben erleichtert.

Hatte denn, so will nun die 'Polityka‘ in einer Enquete unter polnichen Geschichtswissenschaftlern wissen, Polen eine Alternative zur Politik des Außenministers Jozef Beck? Auch dies ist eine ketzerische Frage, hat doch besonders die in den letzten 40 Jahren bestimmende parteiamtliche Geschichtsschreibung stets die antisowjetische Komponente des damaligen Außenministeriums kritisiert. Die nun eröffnete Debatte aber zeigt: Polens Historiker sind sich weitgehend einig darüber, daß es zur Politik des gleichen Abstands gegenüber Berlin und Moskau keine wirkliche Alternative gab. Ein Bündnis mit der Sowjetunion hätte früher oder später die Sowjetisierung Polens bedeutet; ein entsprechender, von Hitler vorgeschlagener Beitritt zum Antikomintern-Pakt und eine Erfüllung der deutschen Forderungen hätte zur bedingungslosen Unterordnung unter den nationalsozialistischen Staat geführt. Ein Nachgeben gegenüber Deutschland hätte zudem bei der Bevölkerung keine Zustimmung gefunden. „Es spricht vieles dafür“, meint Madajczyk, „daß eine Regierung, die Berlins Forderungen nachgegeben hätte, dies politisch nicht überlebt hätte.“ Darüber hinaus, so gibt der Historiker Jan Ciechanowski zu bedenken, habe Polen mit seinem Widerstand gegen die Besatzung seinen westlichen Alliierten neun Monate Aufschub zur Vorbereitung auf die Konfrontation mit Hitler verschafft. Daß die westlichen Verbündeten so zögerlich reagieren und die UdSSR Polen in den Rücken fallen würde, konnte Beck nicht voraussehen. Die Debatte über den Hitler -Stalin-Pakt hat nun in der Historikerdebatte für neue Aspekte gesorgt. Geschichtswissenschaftler sind zu dem Schluß gekommen, daß eine eventuelle Neutralität Moskaus Hitler von seinem Anrgiff abgehalten hätte. In der 'Polytika‘ polemisiert der Warschauer Historiker und Pilsudski-Biograph Andrzej Garlicki gegen die offizielle Moskauer Argumentation, Stalin habe keine Alternative gehabt.

Kaum auf polnische Zustimmung dürfte auch die Ansicht des Stalin-Biographen Dimitrij Wolkogonow stoßen, der in Moskau vor die Presse trat und erzählte, wie unentschlossen Stalin am 17.September der Roten Armee den Marschbefehl Richtung Polen gegeben habe, erst als der Widerstand der polnischen Armee immer schwächer geworden sei, habe er sich entschlossen, die weißrussische und ukrainische Bevölkerung „in Schutz zu nehmen“. In Polen erinnert diese Darstellung an jene Note, die der damalige polnischen Botschafter im Moskauer Außenministerium sich weigerte anzunehmen: der polnische Staat habe aufgehört zu bestehen, hatte es darin geheißen, und die Sowjetunion müsse ihre weißrussischen und ukrainischen Brüder in Schutz nehmen.

Daß die Polen der Roten Armee 1939 keinen Widerstand entgegengesetzt hätten, wie Wolkogonow behauptet, ist eine stalinistische Legende, die polnische Historiker schon lange widerlegt haben. Nach offiziellen sowjetischen Angaben sind bei dem sogenannten „Befreiungsmarsch“ (wie es noch heute in Lexika heißt) immerhin 737 Soldaten der Roten Armee gefallen.

Für Artur Hajnicz ist der Hitler-Stalin-Pakt denn auch ein „Staatspakt“, der von Anfang an nichtig war. Eine Ansicht, die sich bis in die PVAP hinein großer Beliebtheit erfreut. „Sonst würde das heißen“, schriebt Hajnicz im 'Tygodnik Solidarnosc‘, „daß die Koninuität und rechtliche Identität des polnischen Staates zwei Jahre lang unterbrochen war“ dann nämlich, wenn erst Hitlers Angriff auf die Sowjetunion den Pakt hinfällig machte. Auch das Politbüro der PVAP hat sich dieser Ansicht inzwischen angeschlossen und in einer Erklärung den Pakt für nichtig erklärt. Dann allerdings, meint ein prominenter Historiker, der auch der Partei angehört, könne man auch leicht die Rückgabe Lwows und Wilnas an Polen fordern, und das stehe ja wohl außer Diskussion. Hajnicz stellt dann auch gleich fest: „Das polnische Volk stimmt der derzeitigen territorialen Gestalt seines Staates zu.“ Doch wie soll man beides unter einen Hut bekommen?