Europa bracht freie Radios...

■ ... aber der Freien-Radio-Föderation F.E.R.L. fehlen Glasnost und Perestroika: Erst nach dem Rausschmiß von Radio Dreyeckland gewinnt die Oppostion an Boden. Polemisches Fazit aus Forcalquier

Die Tüte voll Landkarten, die wir nach Forcalquier mitgenommen hatten, nützte uns so wenig wie unser ideoligisches Reisegepäck: Unser Ziel, der Radiosender Zinsine auf der Kooperative Longo Mai in Forcalqueri, war (politische Symbolik?) auf einer von den Gastgebern selbstgebauten Straße zu erreichen. Die ersten Eindrücke von Forcalquier waren ebenso bleibend und symbolträchtig: Es war heiß: Kongreßort war ein ausgedientes Zirkuszelt. Die Plumpsklos waren liebevoll gezimmert; und wild Campen war noch ein veritables Abenteuer.

Europa braucht freie Radios... ...aber der Freien-Radio-Föderation F.E.R.L. fehlen Glasnost und Perestroika: Erst nach dem Rausschmiß von Radio Dreyeckland gewinnt die Opposition an Boden. Polemisches Fazit aus Forcalquier

Das Treffen vom 7. bis 13.August begann mit der Vorstellung der Federation Europeenne des Radios Libres (F.E.R.L.): Ihre offiziellen Ziele sollten sich bald als brisant erweisen.

1. Koordination und Verteidigung freier Radios mit autonomer, demokratischer und partizipatorischer Kommunikationspraxis;

2. Hilfe an ihre Mitglieder zur Aufrechterhaltung der freien Meinungsäußerung;

3. Technische Förderung, wobei nur nichtkommerzielle Radios Mitglieder werden dürfen.

Gegründet wurde die F.E.R.L. 1987 mit zehn Sendern und Radiogruppen, unter anderen eben Zinzine in Forcalquier. In diesem Jahr begann der Eklat gleich beim ersten Kongreßtag: Felix Forster, Vertreter von Radio Dreyeckland aus Deutschland, wurde vom F.E.R.L.-Exekutivkomitee als unerwünscht bezeichnet und des 300-Hektar-Wald- und Ackerlandes der gastgebenden 120-Seelen-Kooperative Longo Mai verwiesen. Ausgerechnet in Managua, beim Welttreffen der Freien Radios 1988, so die empörte F.E.R.L.-Anklage, habe er illoyal gegen Organisations-Absprachen verstoßen. Was es damit auf sich hatte, siehe weiter unten - jedenfalls brachte die „Abschiebung“ Unruhe in die scheinbar harmonische Atmosphäre.

Deutsche, englische, spanische TeilnehmerInnen schalten die Maßnahme undemokratisch und autoritär, zumal das Komitee die KongreßteilnehmerInnen (neben Radiogruppen und -projekten auch WissenschaftlerInnenund VertreterInnen ethnischer und politischer Minderheiten) nicht einmal zu informieren geruhte. Das Radioprojekt „Neue Essener Welle“ reiste daraufhin solidarisch ab, und es folgte eine provozierte Abreise-Welle. Das F.E.R.L.-Komitee und der Patriarch von Longo Mai beschimpften englische und spanische „Freunde“, Dissidentenmeinungen wurden abgeschmettert, individuellen Gedanken eine Gehirnwaschmaschine entgegengesetzt. Die kleinen individuellen Probleme überlasse man doch bitte der 'Flur-Gazette‘ (Titel der täglich erscheinenden Tageszeitung)!

Der Musikgruppe von „Longo Mai“ gelang dann auch am zweiten Kongreßtag eine entspannte, fröhliche Stimmung mit Hausmuik vom Feinsten. Doch gleich danach waren alle wieder an dem Punkt, wo sich konstruktive Medienarbeit lohnt: Der belgische Bergarbeiter Desire Dyste berichtet über sein Bergwerk im belgischen Limburg, wo westdeutscher Atom-Abfall gelagert werden soll - auf Kosten von 5.000 Arbeitsplätzen. Die kommerziellen Medien verschweigen den Skandal, Radio Zinzine greift die unterbliebene Nachricht auf.

Ein weiteres Ziel des Kongresses war, ein Kommunikations und Datennetz aufzubauen und eine Solidaritätsstrategie samt einer juristischen Charta zu erarbeiten. Charles Andre, Direktor des Informationsbüros CEE aus Marseille, berichtete darüber im Hinblick auf das Vereinigte Europa von 1993. Die freien Radios fürchten die Öffnung der Grenzen für die Kommunikations- und Werbe-Multis, was Funkstille für die freie Meinungsäußerung der „Kleinen“ bedeuten könnte.

Das Pathos von 1789 feierte fröhliche Urständ, was sich auch am Kongreßplakat zeigte! „Freiheit auf den Barrikaden!“ mit dem Mikro in der Hand.

Das geht nicht unter Weltniveau, klar. So war auch die AMARC (World Conference of Community-oriented Radio Broadcasters, 1983 in Montreal mit 600 Sendern aus 36 Ländern gegründet) Thema des europäischen Treffens, und just auf Weltniveau 1988 in Nicaragua hatte der Eklat ja auch begonnen. Forster als Vertreter von Radio Dreyeckland hatte nicht den F.E.R.L.-Kandidaten gewählt mit der Begründung, die zentralistische Macht von Longo Mai/Radio Zinzine/F.E.R.L. müsse zurückgeschraubt werden. So gruben Pierre Bouchardeau (F.E.R.L.) und Remy (Patriarch von Longo Mai) das Kriegsbeil hauptsächlich gegen die britischen AMARC -VertreterInnen Peter Lewis, Steve Byron (Community Radio Association) und Sangita Basudev aus, bis die ÜbersetzerInnen streikten.

Dennoch waren auch die konstruktiven Vorschläge nicht zu stoppen, etwa die Forderung nach einer Frequenz auf einem Rundfunksatelliten für nicht-kommerzielle Sender ab 1993 und nach einer Kampagne gegen die Olympischen Spiele 1992 in Barcelona: Alle alternativen Medien, so die Barcelonesen, sollen sich gegen die Evakuierung eines Viertels wenden, wo derzeit 16.000 Einwohner den Hotels weichen sollen.

Beide Vorschläge kosten viel Geld:Die ARMAC und die Industrieländer überhaupt sollen Zuschüsse geben. Nebenbei kamen die Ungleichheiten in der Behandlung Freier Radios zur Sprache - Radio Dreyeckland in der Bundesrepublik zum Beispiel soll für seine Frequenz der Post etwa ebensoviel berappen wie ein vergleichbares französisches Radio umgekehrt aus den Gewinnsteuern der Kommerziellen an Subventionen bekäme. Existenzbedrohten Radios droht überall das Gespenst, eine Werbefinanzierung versuchen zu müssen.

Beim offiziellen Teil der Tagesordnung verließ man die konstruktive Arena wieder und betrat den unvermeidlichen Kampfplatz David gegen Goliath.

Die spanische Delegation, die zehn Sender aus dem ganzen Land vertrat, war abgereist. Die hervorragenden DolmetscherInnen von der Heidelberger Universität hatten ihre Mühe mit der langen Liste aufgeregter RednerInnen, die von Co-Autorin Fatima Rommao über Jose-Luis Gonzales (Radio Immigranten/Oslo) bis zu Chris Swart (Radio 100/Niederlande) reichte.

Ein neuer Exekutionsaussch(l)uß - pardon: Exekutivausschuß

-wurde gewählt, bestehend aus Genevieve Mayeur (Radio IFK, Frankreich), Brigitte Busch-Windhals (Radio Multikulturell, Österreich), Alain Hertzman (Großbritannien), Jean-Philippe Cambie (Radio Air Libre, Belgien), Christoph Lindenmaier (Radio LoHa, Schweiz) und Guido Gorret (Radio Zinzine/Italien), die eindeutig als Longo-Mai -SympathisantInnen zu erkennen waren, und Chris Swart (Amsterdam) als möglicher oppositioneller Stimme. Offenlegung der Finanzen und Dezentralisierung der F.E.R.L. werden, wenn überhaupt, erst auf dem Kongreß 1991 in Österreich besprochen werden. Und die Bundesrepublik ist nach wie vor weißer Fleck für F.E.R.L.: kein Zufall, daß das Hamburger Radioprojekt St. Pauli sich zur Sprecherin der Dezentralisierung gemacht hatte.

Das Ende des Kongresses brachte wieder konstruktive Initiativen: zugunsten der slowenischen Minderheit im zunehmend rechtsextrem dominierten Kärnten; für die Entkriminalisierung der Freien Radios in Katalonien; und für eine Kampagne gegen die neo-kolonialistischen Jubelfeiern zum 500.Jahrestag der „Entdeckung Amerikas“ durch die Kolonisatoren, 1992. Noch in diesem Herbst will die F.E.R.L. beim Europarat für Reform und Ausweitung der Medienfreiheit aktiv werden. Leute, die sich ihre heißen Köpfe lieber von der Sonne als von den Diskussionen holen wollten, konnten bei der Ernte in der Kooperative Longo Mai helfen, in der Bastelecke mit genialen Apparaturen spielen oder einfach die Köpfe in den Sand stecken. Eine Wechselstube mit Kassetten von Sendungen der verschiedenen Radios lockte ebenfalls, wobei sich übrigens ergab, daß von 27 vertretenen Radios nur drei ihre Schwerpunkte auf avantgardistisch-künstlerische Experimente setzten, alle anderen auf politischer Praxis in traditionellem Sinn - allen voran Radio Zinzine als Modell, wo Rockmusik dann als musikalische Spitzenqualität gilt, wenn sie politsche Texte vorweisen kann.

Wer nach einer durchgängigen politischen Erklärung sucht, der muß enttäuscht werden, das Entscheidende ist: Hier läuft ein Machtapparat Amok. Vielleicht könnte es dieses psychoanalytische Schlußwort geben:

Longo Mai ist ein langer Mai von paranoiden kollektiven Wiederholungszwängen und Übertragungsmechanismen. Nur linientreue KongreßteilnehmerInnen wuden bedingungs- und erbarmungslos von den deckungsgleichen organisationen F.E.R.L., Longo Mai und Radio Zinzine in den Kreis der Götter aufgenommen. Ungläubige wie Klaus Gstettner/Kärnten, Richard Graf (Radio Radau)/Luxembourg oder die Co-AutorInnen versuchte man zu bekehren. Kostprobe im missionarischen Originalton: „Wir wollen sehen, wer von uns in zwei Jahren die revolutionäre Kraft ist. Ihr Kleinen werdet alle miteinander verschwinden.“

Ein Protestbrief der abgereisten spanischen Teilnehmer wurde an einem Baum plakatiert. Immerhin! Weit weniger höflich wurde ein Fernschreiben von Radio Dreyeckland empfangen: bis haarscharf vor Kongreßende jedenfalls wurde es schlicht ignoriert. Allez, enfants de F.E.R.L/Zinzine! Da wartet noch eine unterbliebene Nachricht auf euch: Radio Dreyeckland erwägt, eine neue Radioföderation zu gründen...

Dorthe Krohn, Fatima Romao, Richard Herding (Informationsdienst -Projekt Alltag-, Frankfurt)