Die zweite Natur

■ Eine Erinnerung an Margaret Cavendish (1623-1672), eine frühe Kritikerin der modernen Wissenschaft

Elisabeth Strauß

Margaret Cavendish wurde 1623 als jüngstes von acht Kindern einer adligen Grundbesitzerfamilie in Essex geboren. Ihr Vater stirbt, als sie erst zwei Jahre alt ist. Während ihre Brüder in Cambridge studierten, hatte man für die Töchter ein älteres adliges Fräulein engagiert, das ihnen Grundkenntnisse in Rechnen, Lesen, Schreiben beibrachte, dazu etwas Singen, Tanzen, Musizieren. Diesen Mangel an intellektuellem Training, den Margaret Cavendish ihrer Mutter nie anlastete, wurde in ihren Werken immer wieder thematisiert; sie führte die später oft beklagten methodischen Mängel ihres Denkens immer auf diese mangelhafte Ausbildung zurück. „Laß mich dir sagen, Frau“, klagt eine Figur in einem ihrer Theaterstücke, „das ist der Grund, warum alle Frauen Dummköpfe sind; denn wenn Frauen Frauen ausbilden, bildet ein Narr den anderen aus; und so lange diese Sitte dauert, gibt es keine Hoffnung auf Besserung, und alte Gewohnheiten werden so zur zweiten Natur, die die Dummheit in diesem Geschlecht erblich machen.„1

Trotz mangelnder Orthographie muß sie eine unbändige Freude am Schreiben gehabt haben: In einer Zeitspanne von 20 Jahren veröffentlichte sie fünf wissenschaftliche Abhandlungen, fünf Sammlungen von Gedichten und phantastischen Werken, zwei Bände Essays und Briefe und zwei Bände mit Theaterstücken.

Mit 20 Jahren wird sie Hofdame bei der englischen Königin Henrietta Maria und flieht bei Ausbruch des Bürgerkriegs mit dem Hofstaat ins Exil nach Frankreich. Dort heiratet sie mit 22 Jahren den 30 Jahre älteren Herzog von Newcastle. Durch ihn - ihren lebenslangen Freund und Förderer, der ihr bewundernde und ihre Autorenschaft verteidigende Epigramme in ihre Bücher druckt - wird sie mit den zeitgenössischen Strömungen der englischen Philosophie vertraut.

Der Newcastle-Kreis spielte in England um 1630 eine wichtige Rolle in dem Streit um die Ablösung des scholastischen Aristotelismus durch den Atomismus, der die physikalischen Phänomene mit neuen sensationell einfachen Erklärungen zu lösen versuchte. Zu dem Kreis gehörten neben William Cavendish sein Bruder Charles, vor allem an Mathematik interessiert, Thomas Hobbes, lange Jahre durch seine Hauslehrertätigkeit mit der Familie Cavendish verbunden, die Mathematiker John Pell und Robert Payne.2

Im Exil in Frankreich vergrößert sich der Kreis, nicht nur durch die royalistisch gesinnten Exilanten, sondern durch Verbindungen zu französischen „modernen“ Philosophen. William Petty, ein Anhänger Gassendis, und Kenelm Digby, um eine Reformierung der aristotelischen Physik bemüht, treffen in Frankreich ein. Hobbes befreundet sich mit Gassendi, Charles Cavendish tauscht Briefe und Bücher mit Rene Descartes. 1647 findet in Paris bei William Cavendish ein Dinner statt, bei dem Hobbes, Gassendi und Descartes anwesend sind.3 Frühe Veröffentlichungen

1653 veröffentlicht Margaret Cavendish als eine der ersten Autorinnen in England ohne männliches Pseudonym, sondern unter ihrem eigenen Namen,4 zwei Bände mit meist naturphilosophischen Gedichten, die einen Skandal in der Londoner Gesellschaft auslösen. Sie wurden verspottet von den Literaten wegen der zahlreichen Fehler in Orthographie, Sprachrhythmus und Reim, kritisiert von den Vertretern des Atomismus als der Reputation ihrer Theorie in der Fachwelt abträglich und verachtet von der Öffentlichkeit, die eine weibliche Autorenschaft als Verstoß gegen den guten Geschmack ansah. „Die arme Frau ist sicher ein bißchen verrückt“, schrieb Dorothy Osborne an William Temple, „sonst könnte sie niemals so etwas Lächerliches wagen wie Bücher schreiben und noch dazu in Versen.„5

Weniger lächerlich als unangenehm war für die ausschließlich männliche Gemeinschaft der Gelehrten ihr zähes Bemühen, in die wissenschaftliche Diskussion der führenden naturphilosophischen Kreise einbezogen zu werden, ein Kampf, der von Margaret Cavendish mit Hartnäckigkeit und Selbstbewußtsein geführt wurde, beides Eigenschaften, die dem Topos der weiblichen Bescheidenheit diametral entgegengesetzt waren. Von ihren philosophischen Werken sandte sie Exemplare nicht nur an die Universitäten, sondern auch an die bedeutenden Gelehrten ihrer Zeit, eine Kühnheit, die zwar zähneknirschend mit Dankesschreiben belohnt,6 insgeheim aber verlacht wurde, wenn nicht gar mit chauvinistischer Verachtung bestraft.

1667, fünf Jahre vor ihrem Tod, gelingt es ihr, für einen kleinen Augenblick in den erlauchten Kreis der Gelehrten einzudringen: Sie, die nie das Glück wissenschaftlicher Diskussion erfahren hatte, wird nach jahrelanger Bemühung eingeladen zu einer außerordentlichen Sitzung der Royal Society. Fünf Jahre nach ihrer Gründung war die methodisch an Bacons Empirie orientiere Royal Society das Zentrum wissenschaftlicher Forschung in England geworden, zudem eine Anlaufstelle für den Kommunikationsaustausch unter den europäischen Gelehrten.

Ihr Besuch löst noch einmal einen Skandal aus: Es kommt zu einem Massenauflauf vor dem Versammlungsort, Gassenhauer werden auf „Mad Madge“, die verrückte Margaret, gedichtet, als exorbitantes Ereignis geht es sogar in die Annalen der Royal Society ein. Unter der Leitung von Robert Boyle und Dr. Robert Hooke wurden ihr die neuesten Experimente vorgeführt, angefangen mit dem Wiegen von Luft - unter Verwendung der berühmten Boyleschen Luftpumpe - bis zur Vorführung eines riesigen Magneten, der Eisenstaub zu seinen Polen hinzog. Und natürlich zeigt man ihr ein Hookesches Mikroskop, das im Ruf stand, zu den exaktesten seiner Zeit zu gehören.

Sie, die das Experiment als Methode der Naturwissenschaft in ihren späten Werken scharf kritisierte und statt dessen der „rational contemplation“, der vernunftorientierten Betrachtung der Natur, den Vorzug gab, mußte sich nach all der Ablehnung und dem Spott belohnt gesehen haben für ihr Durchhaltevermögen: Die Einladung war ihr ganz persönlicher, später Triumph. Frauen und experimentelle Naturwissenschaften

Über die Anregung und Ermutigung hinaus, die Margaret Cavendishs Beschwerde über die Benachteiligung der Frauen bot, lenkte sie durch ihr Beispiel das Interesse vieler (adliger) Frauen auf Naturwissenschaft und philosophische Spekulation: Im 18. Jahrhundert war die Zahl von wissenschaftlich interessierten Frauen stark angewachsen, ein Aufschwung, der sich in einer Flut von populärwissenschaftlichen Werken in zahlreichen Auflagen niederschlug, die - oft von Frauen übersetzt - ihrer meist ungebildeten Leserschaft aktuelle naturphilosophische Probleme erklären sollten.7

Aber keineswegs gewillt, sich an der Euphorie der „Moderni“ zu beteiligen, gehört Margaret Cavendish zu der kleinen Zahl derer, die Kritik übten an dem neuen, mechanistischen Naturverständnis und den Methoden der „neuen Wissenschaft“, zu einer Zeit, als diese in enthusiastischer Aufbruchstimmung gerade dabei war, den Fortschritt der Menschheit mit der Unterwerfung der Natur in Verbindung zu bringen. Gegen diese Strömung setzt Margaret Cavendish die Entwicklung eines antihierarchischen Naturbegriffes, der sich auf die Allebendigkeit des Kosmos gründet und daraus die Würde der Natur und ihre kommunikative Einheit mit dem Menschen ableitet. Davon soll im folgenden die Rede sein.

Ausgangspunkt ist die - in ihrem ersten Buch Poems and Fancies8 zunächst poetisch-phantastische Auseinandersetzung mit der Naturlehre Epikurs, in der sie unbekümmert um den Vorwurf des Atheismus einen konsequenten Materialismus zeigt. Nach Cavendish gibt es im Universum nur unvergängliche Materie und leeren Raum. Die Materie besteht aus kleinsten, unteilbaren Einheiten, den Atomen, die sich in diesem Raum bewegen und durch Kontakt zueinander die Gegenstände unserer sinnlich wahrnehmbaren Welt bilden. Die Entstehung der Welt als einmaliger, endgültiger Schöpfungsvorgang wird aufgelöst in einen ewigen Weltprozeß, einen kosmologischen Tanz, der in seiner Dauer die Ordnung der Welt garantiert: Die Bewegung ist die Musik, zu der die Atome tanzen.9

Nach der Rückkehr aus dem französischen Exil begann sich Margaret Cavendish für die Theorien ihrer Zeitgenossen, vor allem Henry More, Descartes, Van Helmont und Hobbes zu interessieren, soweit ihr die Werke in englischer Sprache zugänglich waren. Die Lektüre führte zur Schärfung und Klärung ihrer Argumente und zur Ausdifferenzierung einer Kerndefinition von Natur: „Die Natur ist ein einziger, unendlicher, mit Selbstbewegung, Leben und Bewußtsein begabter Körper, bestehend aus den drei Stufen der Materie, der unbeseelten, der sinnlich wahrnehmenden und der rationalen, die so miteinander vermischt sind, daß kein Teil der Natur, selbst wenn es ein Atom wäre, ohne eine dieser drei Stufen existieren könnte; die sinnlich wahrnehmende Materie ist das Leben, die intellektuell wahrnehmende die Seele, und der unbelebte Teil ist der Körper der unendlichen Natur.10

Wenn in der frühen atomistischen Theorie die Teilbarkeit der Materie und die Zusammenhanglosigkeit der einzelnen Atome betont wurde, so hat sich jetzt die Intention zugunsten des Zusammenhangs der Materieteilchen verschoben. Die Einheit des Ganzen, der Körper der Natur, rückt stärker in den Mittelpunkt. Die Teilchen ordnen sich zu neuen Konfigurationen immer auf ein Ganzes, das Universum, hin.

Ohne auf die einzelnen Implikationen dieser Definition einzugehen, möchte ich eine wesentliche herausgreifen, die Selbstbewegung. Die der Materie inhärente Bewegung ist das dynamische Prinzip der Natur, das die Welt jeweils neu konstituiert. Jede Veränderung der Natur ist zurückführbar auf Bewegung. Da die Materie der Entstehung und Auflösung unterliegt, haben selbst unbewegt scheinende Dinge wie Metalle oder Steine eine - mit unseren Sinnen nicht wahrnehmbare - Bewegung. Dabei sind Bewegung und Materie untrennbar verbunden, jede Bewegung ist materielle Bewegung; es gibt keine Bewegung ohne Materie. Die Besonderheit dieser Theorie besteht weniger in der Definition von Bewegung als materieller Bewegung, sondern in der Annahme, daß die Bewegung der Materie inhärent sei. Als innere Ursache ist sie der mathematischen Berechnung entzogen und damit in scharfem Kontrast zu einer mechanisch verursachten Bewegung, wie sie vom Kreis der mechanistischen Philosophen angenommen wurde. Harmonische Einheit

durch Kommunikation

Für die philosophische Schwierigkeiten, die Einheit eines Körpers zu erklären, der sich aus unendlich vielen, jeweils sich anders bewegenden Teilchen zusammensetzt, bietet Margaret Cavendish eine originelle Lösung an: die Abstimmung der einzelnen Teilchen untereinander. „Genauso wie es ein Nichtkennen zwischen Teilchen gibt, so gibt es auch eine Bekanntschaft (speziell in den Teilchen eines Körpers), und die vernunftbegabten Teilchen haben als die feinsten, aktivsten und freiesten mehr Kommunikationsmöglichkeiten als die sinnlich wahrnehmenden. Aber die letzteren informieren oft die vernunftbegabten und umgekehrt, so daß es eine generelle Übereinstimmung aller Teilchen in einem zusammengesetzten Körper gibt...11 Diese harmonische Einheit ist nicht die Homogenität einer passiven Materie, sondern das Ergebnis einer dauernden Kommunikation aller Teilchen der Natur.

Die mechanistischen Philosophen definierten die Natur als mathematisch-physikalisch strukturierte Materie. Dadurch wird sie der menschlichen Erkenntnis ohne metaphysischen Rest zugänglich. Andere Erkenntnismöglichkeiten werden zugunsten der eindeutigen Aussage zurückgewiesen. Die Ausschließlichkeit, mit der Vernunft allein dem Menschen zugeschrieben wird, zeigt sich in dem einzig gültigen Ausdruck von Verstand: der Sprache.

Sowohl Descartes als auch Hobbes sehen in der Sprachfähigkeit des Menschen sein Supremat über die Natur: Tiere haben nicht weniger Verstand als Menschen, sie haben gar keinen, sonst könnten sie Begriffe bilden12 oder mindestens einfache Sätze.13 Alle Lebensäußerungen sind für Descartes nur mechanische Reaktionen auf äußere Reize; das Tier wird zur - wenn auch sehr komplizierten - Maschine.

In scharfer Kritik entlarvt Margaret Cavendish den Ausdruck dieses neuen Selbstverständnisses, nämlich den Menschen als alleiniges Verstandeswesen über die Natur zu erheben, als „dünkelhaftes Hoheitsrecht einer selbstverliehenen Vortrefflichkeit“.14 Denn obwohl „die Tiere kein Sprachvermögen haben, folgt daraus noch lange nicht, daß sie überhaupt keinen Verstand haben (...) Der Mensch kann nämlich weder alle Fähigkeiten noch die Handlungsmöglichkeiten aller anderen Lebewesen kennen, ja nicht einmal die seiner eigenen Gattung (...) Mag der Mensch auch eine bestimmte Art des Wissens in Philosophie und anderen Wissenschaften haben, andere Lebewesen haben eine andere Art von Wissen. Diese kann für ihre spezielle Gattung genauso intelligent und instruktiv sein wie diejenige, die Menschen haben.„15 In der Definition des Verstandes leugnet der Mensch sein Nichtwissen über die Natur, indem er das Unbekannte als Nichtexistierendes ausgrenzt - und in der Abwertung des nun Unvollständigen sich selbst über die Natur erhebt.

Der ethischen Intention, die in dieser Kritik zum Ausdruck kommt, standen ihre Zeitgenossen verständnislos gegenüber. Erst heute, wo Folgen und Grenzen der Naturausbeutung deutlich werden, wird der Versuch von Margaret Cavendish, die Würde der Natur philosophisch zu begründen, von neuem aktuell. 1 Margaret Cavendish, Playes written by the thrice Noble, Illustrious and Excellent Princess, the Lady Marchioness of Newcastle, London 1662, S.123 f. 2 Robert Kargon, Atomism in England from Hariot to Newton, Oxford 1966, S.68 3 Jaquot, Jean, Sir Charles Cavendish and his learned friends. In: Annals of Science 8 (1952), S.186 4 Hilda Smith, Reason's Disciples. Seventeenth-Century English Feminists, Urbana, Chicago, London 1982, S.144 5 The Letters of Dorothy Osborne to William Temple, ed. G.C. Moore Smith, Oxford 1928, S.37 6 vgl. Letters and Poems in Honour of the incomparable Princess, Margaret, Duchess of Newcastle, London 1676 7 Gerald Dennis Meyer, The Scientific Lady in England 1650 -1760. Berkeley, Los Angeles, 1955, Kap.I 8 Margaret Cavendish, Poems and Fancies, London 1653 9 Cavendish, a.a.O., S.96

10 Cavendish, Blazing World, S.80 f.

11 Cavendish, Observations, Argumental Discourse

12 Hobbes, The English Works, London 1840, III, S.33

13 vgl. Descartes, Discours

14 Margaret Cavendish, Philosophical Letters, London 1664, S.114

15 Margaret Cavendish, a.a.O., S.40 f.