„Die Parole 'Russen raus‘ hat es bei uns nie gegeben“

■ Die Unabhängigkeitsforderung der lettischen KP bedeutet nicht gleichzeitig ein Ausscheren aus einer reformierten Sowjetunion / Enttäuschung über Kohl / Mit Dainis Ivans, Vorsitzendem der lettischen Volksfront, sprach Christian Semler

Dainis Ivans ist 33 Jahre alt, Mitglied der kommunistischen Partei, war Journalist und ist jetzt hauptberuflich Politiker.

taz: Sie gehörten zu den Organisatoren der Menschenkette, die an die Unterdrückung der Souveränität der baltischen Staaten nach dem Hitler-Stalin-Pakt erinnern wollte.

Dainis Ivans: Es waren so viele Leute gekommen, daß wir Dreierreihen bilden konnten. Die vollständige Kette stand 15 Minuten. Beteiligt haben sich einfach alle, Familien waren selbst mit ihren Babies gekommen. Auch Russen, Bjelorussen, Ukrainer haben sich eingereiht und alle Religionsgemeinschaften.

Sie sagten, auch Russen hätten teilgenommen. Ist die Konfrontation zwischen Letten und Russen scharf, wie stark ist die Interfront?

Der Einfluß der Interfront ist nie sehr groß gewesen und nimmt weiterhin ab. Sie haben maximal 50.000 Menschen mobilisieren können, wir eine dreiviertel Million. Wer von den Russen demokratisch denkt, schließt sich nicht der Interfront an. 12 Prozent unserer eingeschriebenen Mitglieder sind Russen, bei den Sympathisanten ist der Prozentsatz höher. Bei uns hat es nie die Parole „Russen raus!“ gegeben. Keine Drohungen, kein Druck. Jetzt organisieren sich autonome Kulturzirkel der Russen, Polen und Deutschen. Manche Russen haben sich sogar einen Privatlehrer genommen, um schneller Lettisch zu lernen.

Welche politischen Hauptströmungen kann man in der Volksfront unterscheiden?

Die Grundströmung ist sicher sozialdemokratisch, eine sozialdemokratische Partei ist im Prozeß der Gründung. Auch die Ökologen haben eine Partei gegründet. Die Volksfront wird durch diese neuen Parteien nicht gefährdet - im Gegenteil. Die unterschiedlichen Meinungen können sich jetzt artikulieren, die Einheit wird besser fundiert.

Was für eine Bedeutung hat für Sie der erste unabhängige lettische Staat, der zwischen den beiden Weltkriegen existierte?

Man kann diesen Staat und seine Regierung natürlich nachträglich kritisieren wie jeden anderen Staat dieser Region auch. Aber zusammengefaßt war es die Glanzzeit Lettlands.

Immerhin wurde Lettland damals von einem autoritären Regime beherrscht.

In den letzten fünf Jahren seiner Existenz war Lettland tatsächlich autoritär regiert. Aber mit diesem Problem wären die Letten selbst fertig geworden. In dieser Zeit wurde kein einziges politisches Todesurteil ausgesprochen. Die erste sowjetische Okkupation, die Nazibesetzung und die Zeit nach 1945 brachten regelrechte Ausrottungsfeldzüge gegen das lettische Volk. Heute leben in Lettland einschließlich der nichtlettischen Bevölkerungsteile genauso viele Menschen wie in der Republik Lettland 1939.

Wie verstehen Sie die Forderung nach Unabhängigkeit innerhalb oder außerhalb des sowjetischen Staatsverbandes?

Die Unabhängigkeitsforderung bedeutet nicht, daß wir einer reformierten Sowjetunion den Rücken kehren wollen. Wir wollen allerdings selbst entscheiden, was wir für unseren Staat übernehmen und was nicht.

Ein künftiger Staatenbund?

Nicht ganz. Die Grundfrage ist, ob sich die Sowjetunion demokratisieren wird. Mit einem Staat, der ständig droht und die Faust zeigt, ist ein Dialog schwer möglich. Eine demokratische Sowjetunion könnte Ähnlichkeiten mit der Europäischen Gemeinschaft haben, allerdings nicht in deren jetziger Form.

Wie sieht es aus in der lettischen Kommunistischen Partei?

Es gibt zwei Strömungen, die sich unterscheiden wie Tag und Nacht. Eine sozialdemokratische und eine stalinistische, die sich gegen den Reformprozeß sperrt.

Was heißt das bei Ihnen „sozialdemokratisch“?

Es geht nicht um ein sozialistisches Modell, sondern um die Orientierung an einem Ideal sozialer Gerechtigkeit. Ich selbst gehöre auch zur sozialdemokratischen Strömung. Wir fordern in erster Linie die Achtung der Menschenrechte, einen demokratischen Staat und das Selbstbestimmungsrecht.

Wie sind die Kräfteverhältnisse zwischen den beiden Flügeln in der Partei?

Im Apparat ist die konservative Fraktion noch sehr stark, bei politischen Entscheidungen überwiegt die sozialdemokratische. Viele Leute sind in die Partei eingetreten, die keinerlei Ansichten vertraten - einfach Karrieristen. Die Partei war ein Machtapparat. Wir waren es, die sagten, daß die Partei sich von diesem Machtapparat lösen, daß sie eigene Werte haben und eigene Ziele verfolgen muß.

Wie ist der Parteichef Vagris einzuschätzen?

Er steht zwischen den Fronten. Man spürt, daß er mit der Volksfront sympathisiert, aber er nimmt Rücksicht auf die Stalinisten und fürchtet sich vor ihnen. Das Traurige ist, daß die Kommunistische Partei sich fürchtet, an die Seite des Volkes zu treten.

Besteht die Gefahr einer sowjetischen Intervention, besonders nach den letzten, sehr scharfen Erklärungen aus Moskau?

Wir haben diese Erklärungen als den Versuch einer Provokation empfunden. Sie sollten auf unserer Seite Reaktionen hervorrufen, die den Behauptungen aus Moskau über die Exzesse extremistischer Kräfte nachträglich recht gegeben hätten. Aber der Prozeß in Lettland und den anderen baltischen Staaten läuft völlig demokratisch, völlig gewaltlos, völlig normal ab. Es gibt keine Argumente für eine Intervention.

Argumente finden sich immer. Fürchten Sie ein Eingreifen der Zentrale?

Zuerst einmal haben die Drohungen der Zentrale bewirkt, daß die progressiven Kräfte in Lettland und die drei baltischen Staaten noch näher zusammengerückt sind. Ich kann ein militärisches Eingreifen natürlich nicht ausschließen. Schon die Drohung, zur Gewalt zu greifen, wäre ein Verbrechen.

Wie beurteilen Sie die Haltung der westdeutschen Regierung gegenüber dem Reformprozeß in den baltischen Staaten?

Wir empfinden die Gleichgültigkeit des Bundeskanzlers Kohl gegenüber dem Schicksal der baltischen Staaten als erschreckend. Schließlich tragen die Deutschen für unsere gegenwärtige Lage Mitverantwortung. Außer ein paar Standardsprüchen zum Hitler-Stalin-Abkommen gibt es keine Reaktionen. Bitte bedenken Sie: Wenn die demokratische Erneuerung in den baltischen Staaten gestoppt wird, bricht der Prozeß der Perestroika in der Sowjetunion zusammen. Dann verliert die Führung die Möglichkeit, Konflikte in der Sowjetunion demokratisch und auf dem Weg des Konsenses zu lösen - dann wird es brandgefährlich, auch in den Beziehungen der Sowjetunion zum Westen.