Irrwege höchstrichterlicher Urteile

40 Jahre Grundgesetz: ÖTV-Fachgruppe „Richter und Staatsanwälte“ verabschiedete „Bremer Erklärung“  ■  Aus Bremen Klaus Wolschner

Justiz in einer Demokratie muß mehr sein als eine unabhängige, die Exekutive kontrollierende und nur Gesetz und Recht gebundene Macht. Dies haben circa 100 Richter und Staatsanwälte, die in der Gewerkschaft ÖTV organisiert sind, am Wochenende auf ihrer Tagung in Bremen in einer „Bremer Erklärung zur demokratischen Justiz“ festgestellt: Justiz muß sich „als eine demokratische rechtfertigen, die dem Sozialstaat verpflichtet ist“.

In Bremen ist nicht nur ein überdurchschnittlich hoher Anteil des Justizpersonals - 25 Prozent - in der ÖTV organisiert, Bremen stellt auch seit einiger Zeit mit dem Richter am Landgericht Bernd Asbrock, den „Sprecher der Fachgruppe“.

„40 Jahre Grundgesetz“ war der ÖTV-Fachgruppe Anlaß für einen Rückblick auf die höchstrichterliche Rechtsprechung in der Bundesrepublik. Und die Bilanz Urteil fiel hart aus. „Irrwege der Verfassungsrechtsprechung“, „Irrwege höchstrichterlicher Rechtsprechung“, „Mit der Justiz von gestern ins Jahr 2000“ - höchst umstürzlerisch hörten sich die Titel der Arbeitsgruppen an, die „Grundgesetzdefizite durch Rechtsprechung“ debattierten.

Schon der „Aufbruch der Justiz zur Demokratie“ sei „ein Fehlstart“ gewesen, erklärte der Abteilungsleiter im Bremer Justiz-Ressort, Hans Wrobel, in seinem Referat über „Selbstverständnis und Zukunftsvisionen der Richterschaft nach 1945“. Unter dem Deckmantel des „unpolitischen Richters“, der auch in der Nazizeit nur seine Pflicht tun konnte, habe sich die Richterschaft gegen eine geistige und intellektuelle Erneuerung der Justiz in der jungen bundesrepublikanischen Demokratie gesperrt. Zwar konnten die Richter und Staatsanwälte auch einige Beispiele dafür auflisten, wo die Justiz „aktiven Anteil an der demokratischen Weiterentwicklung“ genommen habe, die Diskussionen waren allerdings durch eine Negativliste bestimmt.

Da wurde in Frage gestellt, ob nicht der „Wehrzwang“ (Bundesverfassungsgericht 1960) die Menschenwürde verletze, weil es Menschen gegen ihren Willen zum Töten verpflichte. Es wurde das obrigkeitsstaatliche Ordnungsdenken bei den Urteilen über „zivilen Ungehorsam“ und Sitzblockaden analysiert und die Frage aufgeworfen, wie eine in sich streng hierarchisch organisierte Justiz über demokratische Lebensweisen entscheiden soll. Die „Bremer Erklärung“ rügt die „passive Haltung der Rechtsprechung gegenüber dem Sozialstaatspostulat“ und die Mißachtung der „Sozialbindung des Eigentums“. Die höchstrichterliche Rechtsprechung habe „die fundamentale ökologische Krise solange wie möglich gegenüber den Anforderungen von Wohlstand, Wachstum und Wirtschaftsfreiheit zu ignorieren“ versucht.

In der „Bremer Erklärung zur demokratischen Justiz“ werden gleichzeitig Reform-Forderungen für den Justiz-Apparat selbst zusammengetragen: Abbau von tradierten Ritualen, Abbau interner Hierarchisierung, innere Demokratisierung der Justiz durch Erweiterung der richterlichen Selbstverwaltung, Veröffentlichung richterlicher Minderheitspositionen, Meinungsäußerungsfreiheit für Richter, schließlich auch Reform der Juristenausbildung: „Richterinnen und Richter müssen sich durch Ausbildung und eigene gesellschaftliche Praxis wappnen, den Zumutungen der Macht standzuhalten.“